Gebetsschule - II. Was ist überhaupt „Beten“?

Es war für mich eine echte Überraschung, die Tatsache wahrzunehmen: Die Bibel des alttestamentlichen Gottesvolkes kennt gar kein spezielles Wort, keinen Fachterminus für „beten“. Das Alte Testament verwendet und kennt   stattdessen ganz unterschiedliche Worte wie: loben, jubeln, jauchzen, singen, danken, preisen, genauso wie rufen, flehen, schreien, klagen, jammern, das Herz ausschütten vor Gott. Seitdem gilt für mich nicht mehr die bekannte Formel aus dem Religionsunterricht meiner Schulzeit, aus dem grünen Katechismus: „Beten ist frommes Sprechen mit Gott“. Wenn wir uns also an die Bibel halten, müssen und dürfen wir davon ausgehen: Alles kann zum Gebet werden, selbst die vorwurfsvolle Frage: „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Es ist ein Wort aus dem Psalm 22 des Alten Testamentes.

Aber was macht dann klagen und schreien im Schmerz oder jubeln und jauchzen aus lauter Freude zum Gebet? Beides gibt es ja in unserem Leben und in unserer Gesellschaft auch völlig losgelöst von Gott. Die Formulierung „das Herz ausschütten vor Gott“, die in Ps 62,9 und 1 Sam 1,15 vorkommt, könnte uns auf die rechte Spur führen. Es kommt offensichtlich darauf an, dass unser Beten Gott als Gegenüber, als Adressat hat. Dabei kann Gott für den Betenden durchaus sehr unterschiedlich erlebt werden, sei es als großes, unbegreifliches Geheimnis, als Klagemauer oder liebendes Gegenüber wie Vater oder Mutter. Das ist die entscheidende Voraussetzung von Gebet. Hier liegt aber auch die elementare Schwierigkeit und Not des Gebetes. Gott ist das verborgene und unsichtbare Gegenüber unseres Betens, das es zu suchen gilt. Für mich zeigt sich dies exemplarisch im Psalm 63:

„Gott, du mein Gott, dich suche ich,
meine Seele dürstet nach dir.
Nach dir schmachtet mein Leib
wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser.
Darum halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum,
um deine Macht und Herrlichkeit zu sehen.“

Da ruft ein Mensch Gott an, ohne ihn schon gefunden zu haben. Noch im Status des Suchens, des Ausschauhaltens nach Gott. Er fühlt sich ausgedorrt und wie vertrocknet. Der Beter des Psalms schwankt zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erinnerung und gutem Vorsatz. Doch für das Gottesvolk ist das Ganze ein Gebet vor Gott, sonst wäre dieser Text nicht als Psalm in den biblischen Kanon aufgenommen worden. Wenn wir versuchen, innerlich mitzugehen und dem Beter des alten Psalms Schritt für Schritt nachzufühlen und nach­zusprechen, dann stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie Hunger und Durst nach Gott auch in mir?

Erste Schritte mit dem Beter des Psalms

In diesem Psalm ist zunächst alles noch im Vorfeld, im Anlauf zum Gebet, bis etwas in den Blick rückt, das mehr ist als das Leben, mit dem der Beter sich bisher begnügt hat. Ich finde, es ist ein Psalm zum Beten lernen:

Denn deine Huld ist besser als das Leben;
darum preisen dich meine Lippen.
Ich will dich rühmen mein Leben lang,
in deinem Namen die Hände erheben.
Wie an Fett und Mark wird satt meine Seele,
mit jubelnden Lippen soll mein Mund dich preisen.
Ich denke an dich auf nächtlichem Lager
und sinne über dich nach, wenn ich wache.
Ja, du wurdest meine Hilfe;
Jubeln kann ich im Schatten deiner Flügel.
Meine Seele hängt an dir,
deine rechte Hand hält mich fest. (Ps 63)

Als junger Priester habe ich das Buch des orthodoxen Metropoliten Anthony mit dem Titel: ‚Lebendiges Beten‘ gelesen. Schon auf den ersten Seiten schreibt dieser erfahrene Mönch aus der Ostkirche: „Dann möchte ich meinen Leser bitten, Gott wie einen Nachbarn, wie einem ihm sehr Nahestehenden entgegenzukommen und für diese Vertrautheit dieselben Ausdrücke zu finden wie für die Beziehung zu einem Bruder oder einem Freund.“ (Metropolit Anthony, Lebendiges Beten, S. 5)

Er zitiert auch den Bauern, den der Pfarrer von Ars in seiner Kirche bei stundenlangem Gebet entdeckte und ihn eines Tages fragte, was er denn tue: Seine Antwort, die Pfarrer von Ars oft weitergegeben hat, lautete: „Ich schaue ihn an, und er schaut mich an und wir sind glücklich miteinander.“ Durch diesen orthodoxen Metropoliten ging mir auf, dass unserem Beten immer wieder gerade diese bewusste und konkrete Kontaktaufnahme fehlt. Wir meinen doch allzu oft, wir könnten gewissermaßen aus dem Stand beten. In den Klöstern aber nehmen die Mönche oft einen langen Anlauf zum Gebet.

Bei Exerzitien, die ich in der Abtei Maria Laach halten durfte, ist mir das sehr zur Erfahrung geworden. Es war Winter und wir standen jedes Mal lange im kalten Kreuzgang, bis wir in die Kirche und ins Chorgestühl einzogen. Und dann kam erst noch die Bitte: „O Gott, komm uns zu Hilfe. Herr, eile uns zu helfen.“

Heute halte ich mich oft bewusst zurück, wenn ich vom Schreibtisch aufstehe, um etwa zwei Meter entfernt vor meinem Kreuz und Marienbild die Vesper zu beten. Ich „bremse mich aus“, um mit dem Stundengebet nicht sofort los zu beten. Es gilt, erst abzuschalten und bewusst Kontakt aufzunehmen. Lasst uns wie die Mönche den Weg in den Chor ganz bewusst nutzen zur Sammlung für das Gebet. Lasst und wie die Mönche „Anlauf nehmen“ zum Gebet.

Gott hat den ersten Schritt getan

Diese innere Bedingung und Voraussetzung von Gebet fand ich ganz ernst genommen in dem ersten veröffentlichten Buch aus dem Raum Schönstatts, das in eine größere Öffentlichkeit hineinreichte. Es trägt den Titel: „Werktagsheiligkeit, Ein Beitrag zur religiösen Formung des Alltags“ und ist 1937 in Limburg erschienen. Es sind Vorträge von Pater Kentenich aus den 30er Jahren, die M. A. Nailis, eine seiner ersten Schwestern, auf seine Bitte hin als Buch veröffentlichte. Er wollte, dass es unter ihrem Namen erscheint. Es sind seine Gedanken.

Bevor er auf das Gebet zu sprechen kommt, handelt er über vie­le Seiten von der „Gottgebundenheit“ des Menschen. Er spricht mit vielen biblischen Zitaten von der „Menschengebundenheit“ des dreifaltigen Gottes durch die Schöpfung und die Gotteskindschaft. Er spricht von der „Menschengebundenheit“ des Heilandes und vieles mehr. Es geht ihm ganz elementar um Beziehung! Erst auf Seite 85 kommt er auf das Gebet zu sprechen. Er behandelt es als Weg zur „Gottgebundenheit“. Die Initiative zum Gebet liegt für ihn bei Gott. Gott hat uns zuerst geliebt. Er hat sich geoffenbart und ist auf uns Menschen zugegangen.

Josef Kentenich erlebt als Student und als junger Priester zunächst eine Tradition von sehr auf äußere Formen und Gebetsübungen festgelegtem Gebet. Doch er wendet sich früh im geistlichen Leben gegen jede „Formversklavung“. Nicht die äußere Form ist ihm wichtig, sondern die innere Haltung. Auch der Aufbruch der Liturgischen Bewegung, die in diese Zeit fällt, ist nach seiner Einschätzung noch zu sehr auf liturgische Formen ausgerichtet. Er greift manche Anliegen der Liturgischen Bewegung auf, aber bleibt bei dieser inhaltlichen Kritik.

Pater Kentenich will wegführen von der damals gängigen Übungsfrömmigkeit zu einer Spiritualität, der es vielmehr auf die innere Haltung ankommt. Deshalb leitet er zunächst an zu einem ganz urwüchsigem Beten. „Beten wie der Schnabel gewachsen ist.“ Er will z.B., dass seine jungen Schwestern eigene Formen entwickeln und nicht einfach die vorgegebene, feste Form des klösterlichen Stundengebetes übernehmen. Er leitet sie an, persönliche Gebete zu formulieren und für sich niederzuschreiben. Er freut sich an solchen Initiativen und animiert die einzelnen Kurse seiner Schwesterngemeinschaft, ihre eigenen Lieder zu dichten und zu komponieren. Wenn ich darüber lese, denke ich immer wieder an das Wort Jesu: „Neuer Wein gehört in neue Schläuche.“ (Mk 2,22)

Das Wesen des Gebetes ist für Pater Kentenich nicht das in Worte gefasste Gebet, sondern „wenn wir durch unser religiöses Leben, durch unser praktisches Tun und Lassen unsere Abhängigkeit von Gott und unsere Hingabe an ihn zum Ausdruck bringen.“ Dann haben wir gebetet und dafür steht für ihn der Aufruf des Apostels Paulus: „Betet ohne Unterlass!“ (Thess 5,16) Gebet im engeren Sinn nennt er im Sinne der Theologen „eine Erhebung des Geistes und des Gemütes zu Gott, eine Unterhaltung mit Gott.“ (Werktagsheiligkeit S. 86) Dann bringt er eine für mich vielsagende und originelle Formulierung für das Gebet: „Beten ist ein Sichhineinkämpfen in die Wertwelt Gottes.“ (Werktagsheiligkeit S. 87)

Impulse / Hausaufgaben

  • Suchen Sie in den Psalmen nach Worten, die statt „beten“ verwendet werden, und überlegen Sie, ob Sie mit solchen Emotionen auch Gott schon angesprochen haben.
  • Versuchen Sie die Schritte des Psalms 63 nachzuvollziehen.
  • Beten Sie einmal bewusst wie Ihnen der Schnabel gewachsen ist / vielleicht sogar im Dialekt.

 

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