Gebetsschule - IV. Vater unser: das Gebet Jesu

Eine Schule des Gebetes für Christen kann nicht auskommen ohne das „Vater unser“. Es ist ein Geschenk des Herrn an seine Jünger auf deren eigene Bitte hin. Wie die Jünger des Täufers wollten auch sie ein Gebet von ihrem Meister haben. Das Gebet des Täufers kennen wir nicht. Es wird vermutlich um Taufe und Umkehr gegangen sein, was eben für ihn und seine Bewegung typisch war. Auch wir wollen achten, was im Vaterunser für Jesus typisch ist.

Das Erste ist: Jesus erlaubt uns seine Anrede an den Vater

„Abba“ ist ein Wort aus der Muttersprache Jesu, vergleichbar unserem „Papa“. Es ist das Wort für den Vater in der Kindheit und wird nur dann weiter verwendet, wenn das Verhältnis zum Vater gut bleibt. So ist es für die Zeit Jesu belegt. Das ist durchaus ähnlich wie bei unserem deutschen „Papa“. Wo das Verhältnis zwischen Vater und Sohn belastet ist, wird der Vater nicht mehr als Papa angesprochen.

Es ist eines der ganz wenigen aramäischen Worte im Neu­en Testament und kommt dreimal vor (Mk 14,36; Röm 8,15; Gal 4,6), so dass wir annehmen dürfen, dass die junge Gemeinde es als einen authentischen Schatz von Jesus bewahren wollte. „Abba“ als Gottesanrede ist alles andere als selbstverständlich. In der gesamten jüdischen Literatur vor Christi Geburt gibt es keinen Beleg für ein Gebet mit der Anrede Gottes als Vater.

Der bekannte Exeget Joachim Jeremias hat sich sehr um diese Frage bemüht und sein Werk: ‚Abba, Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte‘ wird bis heute zitiert. Nach ihm kann man mit Bestimmtheit sagen, dass die Anrede Gottes mit Abba in der jüdischen Gebetsliteratur ohne jede Analogie ist. Diese Feststellung gilt nach Jeremias nicht nur für die liturgisch fixierten Gebete, sondern auch für die freien Gebete, die in der Literatur des Talmud überliefert sind.

Vor einigen Jahren hat der frühere Würzburger Bischof Paul-Werner Scheele ein zweibändiges Werk verfasst mit dem Titel „ABBA – AMEN“. Es sind für ihn die zwei Grundworte des Glaubens. Man spürt darin eine große Liebe und Wertschätzung dieser Urworte Jesu. Wir dürfen also dem Abba am Beginn des Herrengebetes ein ganz hohes Gewicht geben.

Jesus erlaubt damit seinen Jüngern, Gott mit den gleichen Worten anzusprechen, die er bei seinem Beten gebraucht. Er lässt uns damit teilhaben an seinem Gottesverhältnis, an seiner Beziehung zum Vater. Von dem seligen Mystiker Heinrich Seuse aus dem Bereich der Erzdiözese Freiburg wird überliefert, dass er bei der Betrachtung des Vaterunsers auf seinem Weg zwischen Konstanz und Freiburg nicht über das „Vater“ hinausgekommen sei. In beiden Städten hatte er die Aufgabe als Spiritual von den Klöstern der Dominikanerinnen. Bleiben auch wir lange bei diesem Vaterwort stehen. Es ist das Erste und Grundlegendste, was wir von Jesus lernen können, wenn es uns um das Gebet geht.

Doch was klingt dabei für mich mit, wenn ich so bete? Wir sollten damit rechnen, dass das Bild des eigenen Vaters ins Spiel kommt. Die Erlebnisse mit dem eigenen Vater können für die einen sehr hilfreich sein und anderen den Weg auf Jahre hin auch durchaus erschweren. Diese zwei­te Möglichkeit ist mir als junger Kaplan in einer meiner ersten Schulstunden unvergesslich begegnet: Ich sollte eine Stunde über die Beichte halten und wollte mit Drittklässlern das damals in Jugendgottesdiensten beliebte Lied von Pater Cocagnac singen:

Ja, ich will wieder heim
und zu meinem Vater geh‘n.
Mein Vater wird verzeih‘n
und lässt mich nicht draußen steh‘n.

Kaum hatte ich den Vorschlag ausgesprochen, schreit aus der letzten Reihe einer der Schüler: „Ich sing das Lied nicht mit: Ich will nicht heim zu meinem Vater.“ Meine Unterrichtsplanung war an die Wand gefahren. Nach der Stunde fragte ich ihn, warum er so gegen das Lied war. Sein Vater sei jähzornig und habe ihn daheim an einen Heizkörper geworfen. Er konnte einfach nicht mehr mit seinem Vater.

Nehmen wir uns bei Gelegenheit einmal Zeit, darauf zu achten, was bei uns mitklingt, wenn wir „Vater unser“ sagen und mit Jesu Worten beten. Was kommt da bei mir positiv oder vielleicht auch erschwerend zum Klingen? Vielleicht gibt es Erinnerungen, wie mein Vater mit meinen Wünschen und Bitten in der Kindheit und Jugend umging, wie er mich in die Arme nahm, ob er mir etwas zutraute…? Was für ein Glück, wenn jemand mit seinem Vater viele gute Erinnerungen verbinden kann. Aber lassen wir auch die Frage zu: Was erschwert mir vielleicht, diese Anrede von Jesus zu übernehmen?

Die Bitten des Vaterunsers

Die ersten Bitten des Vaterunsers kreisen um das Kommen der Gottesherrschaft. In der Literatur wird immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass diese Bitten miteinander eine Einheit bilden. Das Reich Gottes ist der Lebensinhalt Jesu, es ist sein Programm. In den drei ersten Bitten kommt zum Vorschein, was ihn bewegte in seinem Beten, wenn er sich in manchen Nächten auf einen Berg zurückzog und allein sein wollte mit seinem Vater, wenn er betete um das Gelingen seines Sendungsauftrages. Schauen wir die Bitten im Einzelnen an.

„Geheiligt werde dein Name“

Mit dieser Bitte beginnt Jesu Gebet, das er seine Jünger lehrt. Für Israel ist Gottes Name Unterpfand der Gegenwart Gottes. Israel weiß seit Jahrhunderten um die Offenbarung des Gottesnamens im brennenden Dorn­­busch. Immer wieder begegnen wir in Texten des Alten Testamentes der Überzeugung, dass Gottes Name im Tempel wohnt. Für Israel steht er für die Zusage der Präsenz Jahwes in seiner Mitte. Wenn Israel untreu ist und sich versündigt, dann wird Gottes Namen unter den Völkern entheiligt und entweiht, ist ein wichtiges Motiv beim Propheten Ezechiel.

„Dein Reich komme“

Die zweite Vaterunser-Bitte erfleht die Verwirklichung der Gottesherrschaft. Herrschaft ist im Denken des Orient und Israels immer auf ein umschriebenes Gebiet bezogen. Soweit der Einfluss und die Herrschaft, das Wort und das Gesetz eines Herrschers reichen, gilt eine Gegend als sein Reich. Versuchen wir auch hier uns vorzustellen, dass Jesus so betet. Er will, dass sein Vater sich durchsetzt, dass sein Reich kommt. Das ist Jesu Sendung. Sein Lebensinhalt. Dafür ist Jesus gekommen. Dem entspricht nun auch ganz die dritte Bitte:

„Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“

Im Himmel ist Gottes Wille selbstverständliche Norm und umgesetzte Wirklichkeit. Da gibt es keinen Widerstand. Das Kommen des Reiches Gottes schließt in sich, dass Gottes Wille sich eben nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden durchsetzt, in Israel und bei den Heidenvölkern.

In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig geworden, den Beginn des Vaterunsers, die Anrede „Abba“ ernst zu nehmen. Für mich ist es wie die Vorzeichen am Anfang eines Musikstücks. Jeder, der Musik macht, weiß wie entscheidend es ist, die Vorzeichen zu beachten und nicht zu übersehen. Sonst klingt alles ganz anders. Das Kommen des Reiches war für Israel durchaus verbunden mit der Machtdemonstration Gottes als eines Königs und Herrschers. Die Propheten künden sein Kommen an im Kontext des JOM KIPPUR als einen schrecklichen Tag. Die Bitten des Vaterunsers klingen anderes unter dem Vorzeichen der Vateranrede. Für Jesus ist es offensichtlich die Herrschaft eines Gottes, der zutiefst Vater ist.

Dann folgen weitere vier Bitten, die man früher ganz abgesetzt hat von den ersten drei Bitten und verstanden hat als Bitten um das, was wir eben zum Leben brauchen. In der neutestamentlichen Wissenschaft setzt sich jedoch mehr und mehr die Überzeugung durch, dass auch diese Bitten im Horizont des Reichgottesgedankens zu verstehen sind. Was das bedeutet, will ich im Folgenden zeigen:

„Unser tägliches Brot gib uns heute“

Bei der Bitte um das Brot geht es also nicht, wie früher oft ausgelegt, um das Anliegen „Brot für die Welt“. Für die Jünger Jesu, die das Reich Gottes ansagen sollen und die als Wanderprediger unterwegs sind, geht es vielmehr darum, täglich das Notwendige zum Leben zu haben. Auch die vertraute Auslegung der Brotbitte im Sinne des eucharistischen Brotes dürfte eher als eine spätere Deutung ent­standen sein.

„Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“

Die Bitte um Vergebung und die damit verknüpfte Bedingung, auch anderen zu vergeben, will die werdende Gemeinde im Frieden miteinander bewahren. Jesus ist Realist und weiß darum, dass Menschen untereinander immer wieder schuldig werden. Unter seinen Jünger muss Bereitschaft zu Versöhnung und Friede herrschen, damit sie den Frieden in den Häusern ehrlich ansagen und wirksam weitergeben können.

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“  

Auch diese letzte Bitte, um die gerade in den letzten Jahren so gestritten wurde, ist im Horizont des Reiches Gottes zu deuten. In den Vorstellungen des Gottesvolkes ist die Zeit unmittelbar vor dem Anbruch des Reiches verbunden mit großer Auseinandersetzung und schlimmer Versuchung. Es geht nicht um die tagtäglichen Versuchungen, sondern um diese endzeitliche Herausforderung. Jesus lehrt seine Jünger beten, dass sie Gott vor dieser Versuchung bewahrt und letztlich von allem Bösen erlöst.

Impulse / Hausaufgaben

  • Was schwingt bei mir ganz persönlich mit, wenn ich in meinem Beten Gott als „Vater“ anspreche?
  • Versuchen Sie, das Vaterunser ganz bewusst als das persönliche Gebet Jesu zu verstehen und mit ihm Bitte für Bitte auszusprechen.
  • Versuchen Sie, den Gedanken mit dem Abba als „Vorzeichen“ vor dem Vaterunser zu realisieren.

 

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