Gebetsschule - III. Der Schrei um Hilfe oder das Bittgebet

„Herrgott nochmal!“ „Um Gottes willen!“ „Himmel hilf!“ Solche Ausrufe stehen nicht im Gotteslob und nicht im Messbuch der Kirche. Aber ist das nicht ein Schrei nach dem Herrgott? Ein Hil­feruf mit Gott als Adressat, mit dem im letzten Vortrag geforderten Gegenüber des Gebetes. Für mich kann ein solcher Ausruf mehr Gebetsqualität haben als eine feierliche Vesper, die vielleicht jemand um der schönen Stimmung willen besucht.

Wenn Leute überhaupt beten, dann ist es meist ein Hilferuf, ein Bittgebet. Aber ist das wirklich schon ein rechtes Gebet? Mancher theologische Artikel und nicht wenige Predigten der letzten Jahrzehnte haben Bittgebete doch recht abgewertet und z.T. völlig gering geschätzt. In der Zeit meines Theologiestudiums konnte man der Auffassung begegnen, dass Bittgebet nur als „Bewusstseinserweiterung“ Sinn macht und Berechtigung im Gottesdienst hat. Nur Lobgebete ließ man als richtiges, als wertvolles Beten gelten. Weithin herrschte eine offensichtliche Krise des Bittgebetes.

Berechtigung des Bittgebetes

Wenn es um diese Frage nach der Berechtigung des Bittgebetes geht, sehe ich heute noch Prof. Ernst Käsemann, den wohl berühmtesten evangelischen Exegeten meiner Studienzeit, in einer Vorlesung mit der Faust in sein aufgeschlagenes Neues Testament schlagen mit den Worten: „Das einzige Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, ist ein Bittgebet.“

Sicher, es war schon immer ein Problem einzelner Beter in ihrer Not, wenn sich trotz all ihres Betens nichts änderte. Es wurde jedoch ein Problem ganzer Bevölkerungen und Generationen, die mit so großen schlimmen Ereignissen wie z. B. dem Erdbeben von Lissabon am Allerheiligentag 1755 nicht mehr zurechtkamen. Es war ein Tsunami gewesen, der die Innenstadt von Lissabon zerstörte und zigtausenden Menschen Tod und Untergang brachte. Dieses Ereignis löste geradezu ein länderübergreifendes Erdbeben des Glaubens und des Bittgebetes aus. In der Zeit der Aufklärung wird dieses Ereignis immer wieder gegen den Glauben und gegen das Bittgebet ins Feld geführt.

Ähnliches ist zu sagen über die Erfahrung einer ganzen Generation in den beiden Weltkriegen im letzten Jahrhundert. „Wo warst Du, Gott, als die Bomben dröhnten“, formuliert ein erschütternder Text von Wolfgang Borchert. Ein ganzes Buch voller solcher Texte erschien unmittelbar nach dem Krieg. (Wolfgang Borchert. Das Gesamtwerk.) Er ist jung verstorben. Die Erfahrungen dieses jungen Menschen haben mich als Jugendlicher tief berührt.

Als in den Jahren nach dem Krieg immer deutlicher wurde, was im Dritten Reich an Unrecht geschehen war, kamen die Anfragen nach dem Holocaust mit seinen sechs Millionen ermordeten Juden. Immer wieder wurde die Frage gestellt: „Kann man nach Ausschwitz noch glauben, noch beten?“ Ich habe darauf keine Antwort eines Theologen. Warum aber bete ich weiter? Viele gläubige Juden haben auf ihrem Weg bis in die Gasöfen hinein Psalmen gesungen, sie haben in Ausschwitz gebetet. Für mich blieb gerade diese Tatsache eine bleibende Herausforderung, mit dem Beten nicht aufzuhören.

Bittgebet im Alten Testament

In der Ahnung, dass die Frage des Bittgebetes vielen auf dem Weg zum Gebet Probleme macht, füge ich hier Lesefrüchte aus einem Buch bei, das helfen kann beim Bittgebet zu bleiben. Es ist das engagierte Buch des bekannten Alttestamentlers Gerhard Lohfink, Beten schenkt Heimat, Freiburg 2010.

Gerhard Lohfink erinnert an die oben beschriebene Umfunktionierung der Fürbitten zur Bewusstseinsbildung: Fürbitten wurden zu moralischen Erziehung. Es ist die Zeit des „Politischen Nachtgebets“, initiiert von Dorothe Sölle und Fulbert Steffensky und Heinrich Böll, um die bekanntesten Namen zu nennen. Gerhard Lohfink sagt darüber: „Allmählich wurde mir klar: Die Gebete wollten mich umerziehen. Sie waren ständig am Dozieren. Sie wollten mir kleine Vorlesungen halten. Nicht mehr Gott war ihr wirklicher Adressat. Ich selbst, der zu Belehrende, war ihr Adressat.“ (Gerhard Lohfink S.98)

Dem hält er als kundiger Professor für das Alte Testament entgegen: „Im Alten Testament ist das Bittgebet ein Grundphänomen. Es ist überall gegenwärtig. Wer in Israel in Not ist, schreit zu Gott.“ (Gerhard Lohfink, S. 99) Dafür steht Psalm 50 mit der ganz lapidaren Aussage: „Ruf mich am Tag der Drang­sal! Dann werde ich dich retten, und Du wirst mich ehren.“ (Ps 50,15) Dazu schildert Lohfink die Art und Weise der in Israel üblichen Dankopfer im Tempelvorhof. Das Opfertier ist geschlachtet, man sitzt zusammen und der Beter erzählt von seiner Not, aus der er errettet wurde, und dies führt dann zu gemeinsamem Dank. Soweit die Erfahrung mit dem Bittgebet im Alten Testament.

Jesus und das Bittgebet

Jesus steht in dieser biblischen Tradition. Er selbst hat gebetet. Nicht nur am Ölberg und am Kreuz hat er seine Not hinausgerufen. Es sind Hilferufe und Bitten an den Vater im Himmel. Immer wieder betet Jesus in der Nacht. Die Jünger haben es festgehalten, weil es für sie etwas Besonderes war. Dieser Rückzug Jesu, um in der Nacht zu beten, ist neu in der biblischen Tradition. Das Gebet des Volkes Israel endet normalerweise mit dem Abendgebet im Tempel. Das nächtliche Beten Jesu ist ein Indiz für die tiefe Gottverbundenheit Jesu mit dem Vater. So ein entscheidender Hinweis von dem bekannten Neutestamentler Joachim Jeremias in seinem Buch über das „Abba“ Jesu.

Jesus schätzt das Bittgebet sehr hoch. Er fordert von seinen Jüngern beim Bittgebet grenzenloses Vertrauen. „Alles, was ihr erbetet und erbittet – glaubt nur, dass ihr es empfangt, so wird es euch zuteilwerden.“ (Mk 11,24, vgl. Mt 21,22) In den besten Handschriften steht da die Vergangenheitsform des Aorist: dass ihr es empfangen habt. Im Johannesevangelium wird diese Sicht des Bittgebetes dreimal ganz ähnlich wiedergegeben: „Worum immer ihr bittet in meinem Namen, das werde ich tun, damit der Vater im Sohn verherrlichet werde. Wenn ihr mich um etwas bittet in meinem Namen – ich werde es tun.“ (Joh 14,13-14. vgl. 15,7;16,23) Das Beten im Namen Jesu, für das seine Zusage der Erfüllung im Johannesevangelium steht, habe ich immer verstanden und erklärt als ein Gebet, das Jesus mit seinem Namenszug unterschreiben könn­te.

Über das Bittgebet finden sich weitere Worte Jesu: „Wenn ihr betet, plappert nicht wie die Heiden. Die meinen nämlich, sie würden nur erhört, wenn sie viele Worte machen. Macht es nicht wie sie. Denn euer Vater weiß ja, was ihr nötig habt – noch ehe ihr ihn bittet.“ (Mt 6,7-8) Jesus versucht, bei seinen Jünger gerade dieses Vertrauen zu wecken und hochzuhalten. Er beginnt dabei mit einer alten Bettlerregel: „Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet! Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet; und wer anklopft, dem wird geöffnet.“ (Mt 7,7,) Mit einem doppelten Bildwort unterstreicht Jesus die Gewissheit: „Oder ist einer unter euch, der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er um Brot bittet, oder eine Schlange, wenn er um einen Fisch bittet? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn bitten.“ (Mt 7,9-11)

In die gleiche Richtung des Vertrauens zielt eine andere Erzählung Jesu im Lukasevangelium: „Dann sagte er zu ihnen: Wenn einer von euch einen Freund hat und um Mitternacht zu ihm geht und sagt: Freund, leih mir drei Brote; denn einer meiner Freunde, der auf Reisen ist, ist zu mir gekommen und ich habe ihm nichts anzubieten! Wird dann der Mann drinnen antworten: Lass mich in Ruhe, die Tür ist schon verschlossen und meine Kinder schlafen bei mir; ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben? Ich sage euch: Wenn er schon nicht deswegen aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seiner Zudringlichkeit aufstehen und ihm geben, was er braucht.“ (Lk 11,5-7)

Jesus rät seinen Jüngern, was seine eigene Grundeinstellung ist: „Suchet zuerst das Reich Gottes. Und alles andere wird euch dazu gegeben werden.“ (Lk 12,31). Er will seinen Jünger diese seine Erfahrung weitergeben.

Es bleibt die Erfahrung unerhörter Gebete

Immer wieder stoße ich als Seelsorger besonders in der Geistlichen Begleitung auf Menschen, die erlebt haben, dass ihr bittendes Gebet nicht erhört wurde und dies für sie zu einer schmerzlichen Erfahrung wurde. Es gilt, die Enttäuschung zu verstehen und den oft schlimmen Schmerz mitzutragen. Dann und erst dann gilt es, miteinander auf Jesu Gebet in Getsemani zu schauen, das auch nicht erhört wurde: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht was ich will, sondern was du willst. (Mk 14.36) Und dann zu Jesus und seinem Gebet am Kreuz zu führen: „Gott mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34) Jesus bleibt auch im Erleben seiner Verlassenheit beim Beten. Mit ihm gilt es dann zu ringen um das Einverständnis gegenüber Gottes Willen. Hier offenbart sich, was Gebet zutiefst ist. „Sich hineinkämpfen in den Willen Gottes“ ist eine Formulierung, die mir oft bei Pater Kentenich begegnet ist und die er gern am Ölberggebet Jesu erläutert hat. Jesus rechnet offensichtlich mit der Möglichkeit, dass Gott am Ende doch sein Leiden und Sterben will.

Bei einer Wanderung in meiner Amtszeit als Generaloberer meiner Priestergemeinschaft auf Berg Moriah stieß ich in der Nähe auf die Ruine einer verlassenen Kirche mitten im Wald. In einer Nische der heruntergekommenen Kirche entdeckte ich eine kleine Marienstatue. Um diese Nische herum waren eine Reihe Votivtafeln angebracht. Auf einer las ich und habe es nie vergessen: Ich danke Dir, dass Du mein Gebet nicht erhört hast! Offensichtlich hat eine Beterin oder ein Beter nach langem Beten und unerhörtem Gebet, die Erfahrung gemacht, dass es so am Ende besser war, dass Gott doch weiter gesehen hat als gedacht.

Impulse / Hausaufgaben


  • Erinnere ich mich an Situationen, die mich spontan zu Gott um Hilfe rufen ließen?
  • Habe ich beides erlebt: Erhörung und Enttäuschung? Wie bin ich damit umgegangen?
  • Was hilft mir trotz allem Leiden und Unrecht in der Welt beim Bitten und Beten zu bleiben?
 

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