Gebetsschule - V. Gebete, in die man hineinwachsen muss
Wir haben uns in die Gebetsschule Jesu begeben und das Gebet bedacht, um das die Jünger ihren Meister mit der Bitte gebeten hatten: „Herr, lehre uns beten.“ (Lk 11,1) Jesus hat ihnen auf diese Bitte hin nicht eine Methode an die Hand gegeben, sondern ein formuliertes Gebet. Mit diesem Gebet Jesu und seinen Worten wollen wir also beten lernen. Die Kirche hat dieses Gebet wie einen kostbaren Schatz gehütet. Sie hat dieses Gebet den Taufbewerbern im Katechumenat erschlossen und übergeben. Doch erst nach ihrer Taufe in der Osternacht durften sie es zum ersten Mal laut und öffentlich aussprechen.
Es ist ein „Gebet, in das man erst hineinwachsen muss“. Diesen Gedanken habe ich aus einem Vortrag, den der damals junge Professor Josef Ratzinger, unser späterer Papst Benedikt XVI., im Tübinger Wilhelmstift in der Zeit meiner Externitas ausgesprochen hat. Er war damals gerade 40 Jahre alt und unser Professor für Dogmatik. Bei diesem Vortrag warnte er uns junge Leute davor, zu schnell zu denken, dass wir das Gebet des Vaterunsers bereits beten könnten. Man müsse in dieses Gebet hineinwachsen wie in ein neues Kleidungsstück, das einem noch viel zu groß ist. Ich denke auch nach Jahren immer wieder an diesen Rat. Ja, lasst uns das Herrengebet oft und oft in dieser Einstellung und in dieser demütigen Ehrlichkeit beten.
Ich erinnere mich an eine Schwester, die bei einem Wochenende für Interessentinnen am Ordensberuf über ihren Berufungsweg berichtete. Sie gestand den jungen Leuten, dass sie lange Zeit bei einem Satz im Vaterunser immer verstummt sei. Es war die Bitte: „Dein Wille geschehe.“ Sie ahnte den Ruf zum Ordensleben, aber sie wollte es einfach nicht wahr haben. Sie wollte nicht ins Kloster. Sie hat sich an diesem Satz richtiggehend gerieben. Ich meine, sie hat von mehreren Jahren gesprochen. Diese Zeit des Ringens und des langsamen Hineinwachsens wurde fruchtbar. Sie wurde eine gute Schwester, von der viel Gutes ausgegangen ist.
Es gibt da noch andere Reibungsstellen in diesem Gebet des Herrn. Ich erinnere mich an Leute, die mir darüber klagten, einfach nicht vergeben zu können, was ihnen jemand angetan hatte. Sie konnten diese Vaterunser-Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsere Schuldigern“ im Gottesdienst einfach nicht mehr mitvollziehen. Daheim haben sie das Vaterunser schon gar nicht mehr angefangen. Jahrelang hatten sie diese Bitte ohne jede Schwierigkeiten gebetet. Aber seit die blöde Geschichte mit den Nachbarn war, und bei einer anderen Familie, seit die Geschichte mit der Erbschaft gelaufen war, war Jesu Gebet wie ein „zu großes Kleid“.
Andere „zu große“ Gebete
Es gibt noch eine Reihe andere Gebete, von denen man nicht zu schnell denken sollte, dass man sie schon beten könne. Das gilt z.B. von dem bekannten Gebet des heiligen Bruders Klaus von der Flüe, das wir gelegentlich mit der schönen Melodie aus dem Gotteslob auch im Gottesdienst singen.
Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich führet zu dir.
Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen dir.
(Klaus von der Flüe)
Dieses Gebet ist auch bei ihm erst in jahrelangem Beten in der Einsamkeit des Ranft gewachsen. Wer es auf sich wirken lässt, wird gestehen: So kann eigentlich nur ein Heiliger beten.
Ich kenne Menschen, die immer wieder an diesen Ort pilgern, denen Bruder Klaus mit seiner großen Sehnsucht nach Gott und mit seiner offensichtlichen Gotteserfahrung viel bedeutet. In der Seelsorgeeinheit, in der ich derzeit lebe und mitarbeite, sind viele engagierte Mitarbeiter, Männer und Frauen aus der Landjugend, die diesen Bruder Klaus und seiner Ranft für sich entdeckt haben. Es sind Leute, die wiederholt in die Schweiz nach Flüeli gepilgert sind. Manchen ist dieses Gebet sehr kostbar geworden. Sie haben „Respekt“ davor, es zu beten und zu singen.
Ein anderes Gebet mit der Herausforderung des Hineinwachsens ist das bekannte „Suscipe Domine“ des heiligen Ignatius von Loyola, des Gründers der Gesellschaft Jesu. Es ist das Gebet der Hingabe, das in ihm in der Zeit von Manresa gewachsen ist und das er seinen Jesuiten und vielen anderen in seinem berühmten Exerzitienbüchlein hingehalten hat.
Nimm hin, o Herr, meine ganze Freiheit.
Nimm mein Gedächtnis, meinen Verstand,
meinen ganzen Willen.
Was ich habe und besitze,
hast du mir geschenkt.
Ich stelle es dir wieder ganz und gar zurück
und übergebe alles dir,
dass du es lenkest nach deinem Willen.
Nur deine Liebe schenke mir mit deiner Gnade,
und ich bin reich genug
und suche nichts weiter.
(Ignatius von Loyola, Exerzitienbuch Nr. 234)
Mit diesem Gebet des heiligen Ignatius von Loyola hat auch Pater Kentenich als Gefangener im Gestapo-Gefängnis von Koblenz sich hineingebetet in den Willen Gottes. Er hat mit diesem Gebet gelebt und es ist sein Gebet geworden. Er hat es an einigen wenigen Stellen ergänzt und es später so an seine geistliche Familie weitergegeben. Eine Vorform in Prosa findet sich unter dem Datum des 28. Oktober 1941 in einem Brief aus dem Gestapo-Gefängnis an Schwester Anna, der damaligen Generaloberin der Marienschwestern.
Die endgültige Gestalt in Versform entstand im Jahr 1943 im KZ Dachau und findet sich im Hirtenspiegel 4492-4499 und ist von dort übernommen in der Sammlung der Dachauer Gebete „Himmelwärts“.
Nimm hin, o Herr, durch meiner Mutter Hände
der königlichen Freiheit ganze Spende.
Nimm hin Gedächtnis, Sinne und Verstand,
nimm alles als der Liebe Unterpfand.
Nimm hin das ganze Herz, den ganzen Willen
und lass mich so die echte Liebe stillen;
was du mir gabst, das bring ich dir zurück
ganz ohne Vorbehalt als größtes Glück.
Verfüge stets darüber nach Belieben,
nur eines gib mir: Lasse mich dich lieben!
Lass mich wie deinen teuren Augenstern
von dir geliebt mich glauben nah und fern.
Gib Gnaden mir, dass sie mich machtvoll tragen
zu allem, was aus mir ich kann nicht wagen;
lass teil mich haben an der Fruchtbarkeit,
die deine Liebe deiner Braut verleiht.
Lass fruchtbar werden mich für Schönstatts Erde:
Mein Leben sei ein schöpferisches Werde
für alles, was du gütig hast geplant
zum Heil der Seelen durch das Schönstattland.
Dann bin ich reich, ja überreich zu preisen,
kein größeres Glück kann man mir je erweisen.
Nichts gibt es, was ich noch verlangen möcht:
Was du verfügst, das ist mir lieb und recht.
Mein Herr und Gott, nimm alles, was mich hindert,
was meine starke Liebe zu dir mindert;
gib alles, was die Liebe zu dir mehrt;
nimm mir das Ich, wenn es die Liebe stört. Amen.
J. Kentenich, Himmelwärts, S. 109,1-110,2
Sicher haben Sie bemerkt, dass Pater Kentenich mit dem letzten Vers auch das Gebet des heiligen Bruders Klaus hineinbindet in sein Gebet der Hingabe. Er hat also praktiziert, was ich Ihnen in diesem Vortrag ganz im Sinne einer Gebetsschule vorschlagen wollte: Wachsen an den Gebeten von Menschen, von Heiligen, die uns voraus sind in ihrem Beten und ihrer Hingabe.
Ich möchte noch eine persönliche Anregung dazulegen: Wenn ich das Gefühl habe, dass mir ein Gebet zu groß ist und ich ehrlich so noch nicht beten kann, dann bitte ich den ursprünglichen Beter darum, es mir vorzubeten. Es gibt dann Stellen, die ich gern laut mitbete und andere, wo ich nur leise und verhalten mitbete und ihm die Führung überlasse.
Beten im Kreis der Heiligen
An dieser Stelle will ich auch eine Beobachtung einfügen, die sich seit frühester Zeit der Kirche immer wieder neu zeigt. Die Christen haben sich offensichtlich zu allen Zeiten darauf verlassen, bei ihrem Beten nicht allein zu sein. Schon im Neuen Testament entdeckt man Spuren eines solchen Vertrauens auf die Heiligen und deren Gebet. Die Offenbarung Jesu Christi nach Johannes spricht in einer Vision von einer großen Schar in weißen Gewändern, die vor dem Thron des Lammes stehen und mit lauter Stimme rufen: „Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt und von dem Lamm.“ (Offb 7,10) Sie sind denen voraus, die noch in der Bedrängnis sind und treten für sie ein vor dem Lamm. So ist ihre Fürbitte von Johannes ins Wort gebracht.
Die Apostelgeschichte kennt das Gebet um den verheißenen Geist nach der Himmelfahrt Jesu auf das Pfingstfest hin. Die Apostel tun sich zusammen mit Maria und den Frauen (vgl. Apg.2). Das Pfingstbild gilt in der Kirche bis heute als ideale Darstellung christlicher Gebetsgemeinschaft. In der Pfingstnovene sind wir Jahr für Jahr eingeladen, diese Gebetsgemeinschaft in der Erwartung des Heiligen Geistes nachzuvollziehen.
Seit der Zeit der Christenverfolgungen versammeln sich die Christen an den Gräbern der Märtyrer. Sie sehen in ihnen ihre Fürsprecher und Mitbeter bei ihren Gottesdiensten. Später wird es Brauch, das Heilige Messopfer auf Altären zu feiern, in die man eine Reliquie von Märtyrern eingesenkt hat.
In den großen Domen und vielen Kirchen haben sich die Christen für ihr Beten und Feiern mit immer mehr Heiligen umgeben. Sie haben die Apostel auf den tragenden Säulen, andere Heilige durch geschnitzte und gemalte Darstellungen auf Altären und an den Wänden und in großen farbigen Fenstern dargestellt. Die Hochgebete der Messe sehen die irdische Liturgie als Teilnahme an der himmlischen Liturgie mit all den Scharen der Engel und Heiligen. Sie können das besonders an den verschiedenen Präfationen beobachten, die zu diesem Gedanken hinführen und einladen, in den Chor der Engel und Heiligen einzustimmen.
In der orthodoxen Kirche ist diese Sicht ebenfalls lebendig, ja vielleicht noch stärker im Bewusstsein als bei uns im Westen. Die Ikonostase zwischen Altarraum und Kirchenschiff mit ihren Heiligen-Ikonen steht für diese Sicht und möchte diese Wirklichkeit sichtbar und erlebbar machen.
Impulse / Hausaufgaben
- An welchem Gebet ist mir ganz bewusst geworden, dass ich so noch nicht beten kann, dass es mir zu groß ist wie ein Kleidungsstück, in das ich erst noch hineinwachsen muss?
- Versuchen Sie es mit laut und leise und versuchen Sie zu verstehen, worin die Schwierigkeit besteht, die Gebetsbitte auszusprechen.
- Es gibt noch weitere Beispiele von Gebeten, an denen man erst wachsen und ehrlich dranbleiben muss, bis man sie im Ernst beten kann?