Gebetsschule - I. Die Biographie meines Betens

Manche tun es täglich. Es gehört zu ihrem Leben, es gehört zu ihrer Berufung. Es prägt den Alltag ihrer geistlichen Gemeinschaft oder den Alltag ihres pastoralen Einsatzes. Andere haben es nie wirklich begonnen oder mit der Zeit einfach wieder aufgegeben, ohne es groß zu vermissen. Von Generation zu Ge­­ne­ration verändern sich die Biographien des persönlichen Betens immer deutlicher. Bis vor einigen Jahrzehnten haben es viele von uns daheim gelernt. Manche auf dem Schoß der Mutter. Eine Generation später lernte es manches Kind dann eher bei der Großmutter.

In vielen katholischen und evangelischen Familien gehörte es einfach dazu. Vorher gab es nichts zu essen… Vorher konnte man nicht schlafen… Irgendwann aber kamen dann doch Fragen. Zuerst recht kindliche und später vielleicht auch handfestere, bis hin zu richtigen Zweifeln: Ob das überhaupt geht mit dem Gebet? Ob der liebe Gott es auch wirklich hört?

Auch richtige Brüche sind möglich: Eine Frau erzählte mir, dass sie über zwei, drei Jahre einfach aufgehört hat mit dem Beten und seither nicht mehr in die Kirche geht. Für sie war es eine Reaktion auf Gott, den sie einfach nicht mehr verstehen konnte. Ihr mit großem Engagement aufgebauter Pflegedienst war gescheitert und eine ernsthafte Krankheit war dazugekommen. Es war einfach zu viel für sie. Sie reagierte mit Protest.

Es gibt auch ein eher langsames Verstummen, ein Vergessen geradezu, ein Entwöhnen ohne das Gefühl, dass einem wirklich etwas fehlen würde, ja ganz ohne Protest gegen Gott. Und dann war Beten auf einmal einfach kein Thema mehr. Aber eigentlich auch kein Problem mehr. Es war aus dem Leben verschwunden. Es war abhandengekommen.

Seit Jahren beobachte ich recht verschiedene persönliche Biographien des Gebets. Und zunehmend ahne und erlebe ich, dass viele Menschen überhaupt nicht begonnen haben zu beten. Auf der anderen Seite kann jemand in der Jugend wie Madeleine Del­­brêl und Edith Stein eine Zeit als überzeugte Atheistin hinter sich haben und trotzdem nach Jahren wieder anfangen zu beten und ein betender Mensch sein.

Es sind zwei ganz unterschiedliche Anliegen, die mich in den letzten Jahren bewegt haben, „Gebet“ zum Thema für Vorträge und von Exerzitien zu machen. Da ist die Sehnsucht im eigenen Herzen und wie ich vermute, nicht nur bei mir: Ich möchte besser beten können. Möchte irgendwie etwas dazu lernen, auch wenn ich schon etliche Jahre Priester bin. Es geht nicht um die früher bei fast jeder Beichte als erstes Bekenntnis genannte Sünde: „Ich habe unandächtig gebetet.“ Nein, da ist eher das Gefühl, irgendwie auf der Stelle zu treten und nicht weiterzukommen, das ich auch aus der geistlichen Begleitung strebsamer Menschen kenne. Und deshalb die Frage: Kann man im Beten nicht doch etwas dazulernen, ein paar Schritte weiter kommen, tiefer hineinkommen ins Beten? Es geht mir um so etwas wie „Schritte“ zu einem tieferen, innerlicheren, mehr kontemplativen Beten.

Und da ist ein zweites Anliegen: Es geht mir immer wieder durch den Kopf, dass viele um uns herum es offensichtlich verlernt haben und es aufgegeben haben zu beten. Da feiert man als Pfarrer und als Diakon Beerdigungen und Hochzeitsgottesdienste und die Leute können nicht mehr mitbeten. Sie schauen hilflos um sich, was andere machen. Sie sind nicht mehr vertraut mit den Liedern im Gotteslob, mit den Antworten der Liturgie. Knien geht nicht… Beten geht nicht… Für manche scheint es dann oft ehrlicher, einfach zu schweigen.

Mich lässt es nicht kalt, dass viele vor Gott verstummt sind. Mir geht die Frage nach, ob wir nicht viele allein gelassen haben in ihrem Beten, allein mit ihrem Kontakt zu Gott. Wir erleben inzwischen eine Generation, in deren Biographie Gebet nicht mehr vorkam: Weder am Morgen noch bei Tisch, weder am Abend noch am Sonntag in der Kirche.

Aber kann man beten überhaupt lernen?

Ein Wort macht die Runde, das vor Jahren geradezu neu und völlig selten war: „Gebetsschule“. Als junger Priester hatte ich von zwei Beispielen gehört: Jaques Loew, einer der ersten Arbeiterpriester und Carlo Carretto, zuerst Führer der katholischen Jugend Italiens und dann kleiner Bruder von Charles de Foucauld. Beide hatten so etwas initiiert und gewagt, junge und nicht nur junge Leute einzuladen, um glauben und beten zu lernen. Ja­ques Loew hatte ich durch ein Buch wahrgenommen, Carlo Carretto habe ich bei einer Tagung über Spiritualität in Freiburg persönlich kennen gelernt und danach mehrere seiner Bücher gelesen. Wer heute bei Google „Gebetsschule“ aufruft, stößt in Sekundenschnelle auf etwa 15 000 Einträge im Internet.

In Augsburg gibt es inzwischen ein „Gebetshaus“ mit 24 Stunden Gebet jeden Tag. Johannes Hartl und seine Frau Jutta haben es gegen Ende des ersten Jahrzehnts nach der Jahrtausendwende gegründet. In dem Buch: In meinem Herzen Feuer, Mei­ne aufregende Reise in Gebet, beschreibt Johannes Hartl seinen Weg zum Gebet und zum „Haus des Gebetes“. Seit ich es gelesen habe, kann ich diesen spirituellen Aufbruch - trotz der gelegentlich beobachtbaren Kritik - sehr ernst nehmen. Ich finde es ein wirklich lesenswertes Buch. Seit einigen Jahren treffen sich dort zu den sogenannten „MEHR-Konferenzen“ um die zehntausend Menschen. Noch erstaunlicher ist für mich die Tatsache, dass seit 2017 die Zeit des Gebetes ununterbrochen durchgehalten wurde.

Gebet erleben können

Unzählige junge und eben nicht nur junge Menschen haben dort die Realität von Gebet und Gebetsgemeinschaft erlebt und erfahren. Junge Menschen aus inzwischen mehreren Generationen verbinden tiefe Erfahrungen des Gebetes mit einem Aufenthalt in Taizé oder mit einer Nacht der Anbetung bei einem der Weltjugendtage. Jugendliche und junge Erwachsene erzählen voll Begeisterung, wie sie bei der Nacht der Anbetung beim Weltjugendtag in Köln oder Panama und zuletzt in Lissabon über lange Zeit schweigen und beten konnten. Aber jetzt vermissen sie dieses Gefühl, diese sie tragende Atmosphäre.

Manche versuchen, in gelegentlichen, oft selber veranstalteten Gottesdiensten wenigstens ein Stück dieser Stimmung nachzuerleben. Ich stoße immer wieder auf Pfarrgemeinden, wo solche Taizé-Gottesdienste auf Jahre hin heimisch wurden und Menschen angesprochen haben und ansprechen. Es ist ganz erstaunlich, wie viele Jugendliche das zu arrangieren wissen und ihnen dabei nichts zu viel ist. Andere haben ähnliche beeindruckende Erlebnisse auf dem Camino nach Santiago Compostela oder an einem anderen Wallfahrtsort gemacht, der ihnen über län­gere Zeit zu intensiverem Gebet verholfen hat. Ich verbinde solche Erfahrungen mit nächtlicher eucharistischer Anbetung zusammen mit Jugendlichen bei Besinnungstagen und Exerzitien in Klöstern.

Unvergesslich ist mir auch ein Erlebnis bei einem Besuch eines Mitbruders meiner Priestergemeinschaft in Mexiko. Er drängte mich, mit ihm eine Kirche in seiner Stadt Querétar0 zu besuchen, in der an einem Werktagnachmittag sich regelmäßig hunderte Menschen zum Gebet trafen. Das Singen und Beten wurde von einigen wenigen im Chorraum der großen Kirche initiiert und schwoll immer wieder langsam an. Mit der Zeit wogte es durch die ganze große Kirche, die am hellen Werktag so voll war, dass man einfach nicht umfallen konnte. Ich habe mein Gefühl danach so zusammengefasst: „Es betet.“ Die ganze Kirche war voll von Gebet. Man wur­de geradezu hineingezogen in das Beten der Vielen.

Impulse / Hausaufgaben

  • Wie sieht die Biographie meines Betens aus? Von wem habe ich eigentlich beten gelernt?
  • Wo habe ich einmal Gebet so richtig erleben können? Gibt es für mich so etwas wie ein Lieblingsgebet?
  • Kann ich vielleicht recht verschiedene Phasen in meinem Gebetsleben ausmachen? Wo könnte es für mich weitergehen?

 

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