Nachrichten
Strukturlinien einer neuen Zeit

In den Rissen: Strukturlinien einer neuen Zeit (Foto: elenaw, pixabay)
Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Mitglieder und Freunde der Schönstatt-Bewegung!
Lauretanische Litanei – Mosaiksteine von Gotteserfahrung
Eine Sympathie-Bekundung für die Gottesmutter – auch noch mit Krone! – hätte ich jedenfalls nicht als ein Graffiti auf einer Hauswand erwartet.
Ein modernes Lied besingt den Namen Maria als „den schönsten Klang, den ich je gehört habe ... sag ihn laut und es ist wie Musik … ich werde nie mehr aufhören, diesen Namen zu nennen … sag ihn leise und es ist fast wie ein Gebet“. Wer das Musical West Side Story kennt, hat wahrscheinlich das Lied erkannt. Nachdem ich nachgeschaut habe, weiß ich nicht mehr, ob ich das Lied als modern bezeichnen kann. 1957 ist West Side Story entstanden. Also schon weit im letzten Jahrhundert und auch noch genauso alt wie ich – das bringt mich jetzt aber auf eine andre Fährte …
Mir kommt das Ganze wie ein Anschauungsbeispiel vor für das, was wir aus den biblischen Erzählungen von den Propheten kennen.
Untergangs-Propheten und Hoffnungs-Propheten
Dramatische Kritik an den Verhältnissen und Mahnung zu radikaler Umkehr und auch der Ausblick auf eine hoffnungsvolle [gottgeschenkte] Zukunft gehören zur Ganzheit der biblischen, prophetischen Texte. Es ist notwendig, das Ungute, Ungerechte und Schädliche aktueller Zustände zu durchschauen und zu benennen. Dramatik allein bewirkt aber meistens nicht genug Kraft und Wille zur Umkehr. Ohne Zuversicht im Blick auf Lösung und Überwindung, ohne Hoffnung auf eine heilere und bessere Zukunft scheitert die Botschaft des Propheten. Ein Wahrsager oder Besserwisser ist noch kein Prophet im biblischen Sinn.
Ein biblischer Prophet hat einen Blick für die tiefere Wahrheit der aktuellen Situation. Darin liegen seine Berufung und sein göttlicher Auftrag. Der Wind der allgemeinen Meinung, der Mainstream kann sich schneller drehen als man glaubt. Das gilt für den notwendigen Schutz der Umwelt und der Zukunftsressourcen. Und es gilt genauso für die notwendigen Grundlagen und Orientierungen, die Menschen, Familien, Gemeinschaften und Gesellschaften für ihren Bestand und ihre Entfaltung brauchen. Immer deutlicher erkennen wir, dass nicht nur die Gesundheit der Ernährung und der Nahrungsmittel mehr Beachtung brauchen. Auch die „psychische Ernährung“ greift hinein in die tiefsten Schichten des Menschen. Reine Vielfalt der medialen Möglichkeiten ohne Ethos und innere Verantwortung vor dem Wahren und Guten zerstört. Politische Meinungsbildung wird zum Spielball von Lautstärke und Aufregung. Demokratie und gesellschaftlicher Zusammenhalt, in deren Mitte Würde und Freiheit jedes Menschen stehen, geraten ins Wanken. Technisch perfekte Überwachung und autoritäre politische Macht scheinen den Gleichklang der Meinungen und eine Gesellschaft im Gleichschritt erzwingen zu können. China und Russland wollen ein Bündnisnetz von immer mehr Staaten sammeln, in dem die Freiheitsrechte unserer westlichen Kultur und das Fundament der Menschenrechte nicht gerade im Vordergrund stehen.
Auch unser ganz persönlicher Alltag ist nicht nur äußerlich überfüllt. Von klein auf sind Kinder [und natürlich auch wir Erwachsenen] mit so vielen Dingen, Bildern, Eindrücken, manchmal auch wechselnden Beziehungen und emotionalen Blitzlichtgewittern konfrontiert, dass die äußere Zersplitterung zur inneren Fragmentierung wird. Die Pubertät war schon immer ein von der Entwicklung des Körpers angestoßener Prozess zur Entfaltung der eigenen Identität. Dieser Prozess geht nicht ohne Verunsicherungen und neue Selbsterfahrungen. Die leib-seelische Ganzheit der menschlichen Person braucht mehr an Orientierung und Leitplanken als das Versprechen, dass sich in einer beliebigen und willkürlichen Vielfalt alle Probleme lösen. Gerade alle Fragen um den Menschen und um Gemeinschaft und Gesellschaft waren das besondere Anliegen Pater Kentenichs. Wie hat er in diese Fragen eingegriffen?
„zeitergriffen und zeitüberwindend“
In den beiden Worten „zeitergriffen“ und „zeitüberwindend“ ist für mich die Art des prophetischen Aspektes in der Berufung unseres Gründers besonders gut beschrieben. Auch wenn er die Veränderungen in der Lebenswirklichkeit der Menschen und Gesellschaften oft drastisch beschreibt, spricht er mit großer Zuversicht von den Zukunftsplänen Gottes mit der Welt: „Eine alte Welt ist am Verbrennen“ und „Am Horizont zeigen sich – langsam deutlich erkennbar – die großen Strukturlinien einer neuen Weltordnung“ (1942) und „Wo Gott brechen und zerbrechen, wo er untergehen, wo er sterben lässt, da will er neues Leben schaffen ... Legen wir diesen Maßstab an die heutige Zeit an, lassen wir die furchtbaren Trümmer, die schrecklichen Verheerungen auf uns wirken, die uns allenthalben in der physischen, in der moralischen, in der geistigen Ordnung begegnen, so möchten wir den Atem anhalten. Es muss eine herrliche neue Welt sein, die er aus diesem gewaltigen Sterben erstehen lassen, es muss eine wundersame Ordnung sein, die er aus den Katastrophen und Ruinen neu gestalten will ...“ (1949). Bis zum Ende seines Lebens bekräftigt er diese Überzeugung und zitiert sich mit diesen Texten gelegentlich selbst.
Die größeren Zusammenhänge und Einordnungen geben ihm und seiner Gründung eine besondere Kraft und ein Sendungsbewusstsein. Und doch bleibt er nicht beim Analysieren und Predigen stehen. Beim ihm verbindet sich Deutung und Mahnung und Ermutigung angesichts der Zeitlage mit einer besonderen schöpferischen Kreativität. Er fördert Lebensvorgänge und gründet Gemeinschaften, die er als gelebte Antworten für die Zukunft versteht. Die große Weite, in der er seine Lebensaufgabe sieht, geht bei ihm zusammen mit einer ehrfürchtigen und geduldigen Begleitung von unglaublich vielen einzelnen Menschen mit ihren oft – äußerlich gesehen – kleinen und alltäglichen Herausforderungen. Die inneren Dramen einzelner Menschen waren für ihn genauso wichtig wie die großen Zusammenhänge.
In einem Gespräch darüber mit dem geistlichen Leiter einer anderen Gemeinschaft sagte ich, dass ich das als eine große Spannung empfinde, einerseits den Blick für die großen Themen und andererseits die kleinen Alltagsfragen. Darauf antwortete mein Gesprächspartner: „Das ist keine Spannung, das ist väterlich. Ich habe auch große Anliegen und setze mich mit meinem Sohn an den Tisch und mache mit ihm Mathehausaufgaben“. So kann das Wort väterlich auch klingen, habe ich da gedacht. Der 15. September, der Todestag unseres Gründers, erinnert uns daran, dass es heute an uns liegt, seine Gründung weiter zu gestalten mit dieser doppelten Freude: die Freude über eine große Sendung angesichts turbulenter Entwicklungen und gleichzeitig die Freude über die kleinen Schritte im Liebesbündnis, die Schönstatt von innen her tragen und aufbauen.
P. Ludwig Güthlein
Schönstatt-Bewegung Deutschland

Jahresmotto 2023/2024 der Schönstatt-Bewegung Deutschland (Motiv: Hanna Grabowska)