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Zur Bedeutung des 31. Mai 1949 – Studientag des JKI beschäftigt sich mit dem dritten Meilenstein der Schönstattgeschichte
Öffentlicher Studientag im Rahmen der JKI-Tagung 2024 im Bildungs- und Gästehaus Berg Moriah (Foto: Brehm)
Hbre. Der sogenannte „dritte Meilenstein“ der Schönstatt-Geschichte, der sich mit dem Datum des 31. Mai 1949 verbindet, stand im Fokus des öffentlichen Studientages, zu dem das Josef-Kentenich-Institut (JKI) am 16. März 2024 im Rahmen seiner Jahrestagung ins Bildungs- und Gästehaus Berg Moriah, Simmern/WW, eingeladen hatte. Anlässlich der bischöflichen Visitation hatte sich der Schönstatt-Gründer Pater Josef Kentenich herausgefordert gesehen, ein ausführliches Antwortschreiben auf den Visitationsbericht des damaligen Trierer Weihbischofs Dr. Bernhard Stein zu schreiben, die sogenannte Epistola Perlonga. Das Gedenken an die Veröffentlichung dieses überlangen Briefes vor 75 Jahren, sowie die Aktualität der von Pater Kentenich angesprochenen Fragen waren für das JKI Anlass, einen weiteren Studientag zur Epistola perlonga durchzuführen.
Ein überlanger Brief, der beim Empfänger nicht gut ankam
Pater Josef Kentenich hatte 1949 in der Epistola perlonga offen und klar eine „mechanistische“ Denkweise diagnostiziert, die er nicht nur für die Zukunft der Kirche als gefährlich und bedrohend ansah. Das führte zu einer Auseinandersetzung mit der kirchlichen Hierarchie und in der Folge u. a. zu einer 14jährigen Trennung des Gründers von seinem Werk. „In diesem Brief stehen Gedanken, die damals so neu und so revolutionär waren und vielleicht auch so aufrührerisch geklungen haben, dass in der kirchlichen Hierarchie ein solches Schreiben nicht gut angekommen ist“, so Prof. Dr. Joachim Söder, der Präsident des JKI, bei seiner Tagungseinführung. Dass ein Pater aus einem abgelegenen Seitental des Rheins von Südamerika aus den deutschen Bischöfen, die zum Teil Anfragen an und Probleme mit Schönstatt hatten, auf Augenhöhe etwas für die Zukunft der Kirche Wegweisendes sagen wollte, habe in der Kirche Verärgerung ausgelöst.
Dr. Joachim Söder, Präsident des JKI (Foto: Brehm)
Wütende Sturmeswetter rütteln und schütteln an allen Lebensgebilden
Mit einem Zitat aus dem legendären Brief (in der neuen historisch-kritischen Ausgabe der Epistola perlonga Teilband 1 (EP Tb1) Seite 304) stimmte Söder die gut 60 Teilnehmer des Studientages in die Tagungsthematik ein. Pater Kentenich schreibt dort: „Wütende Sturmeswetter rütteln und schütteln an allen Lebensgebilden, an allen Bräuchen, mögen sie noch so alt sein, und an allen Gesetzen, wie sie auch immer heißen… Was nicht niet- und nagelfest ist, wird weggefegt. Deshalb so viel Unruhe in allen Ländern, soviel Unsicherheit in der menschlichen Gesellschaft, soviel Ungeborgenheit im menschlichen Herzen; deshalb so viel Forschen, Suchen und Tasten auch in allen religiösen Gemeinschaften… Es ist, als ob ein Maurermeister an jeden Stein klopfte, um zu prüfen, ob er am rechten Platze sitzt, ob er echt und widerstandsfähig, ob er brauchbar ist für den Umbau, den die neue Zeit verlangt. Aus immanenten Triebkräften heraus – nicht bloß aus äußerem Zwang – geht es um einen Gestaltwandel von Kirche und Gesellschaft. Das vermehrt die Unsicherheit. Es genügt nicht, sich in ein geschütztes Haus zurückzuziehen und das Ende des Sturmgewitters abzuwarten, in der stillen Hoffnung, nachher wohlbehalten alles wieder zu finden wie vorher.“
Söder: „Es wird an allem gerüttelt und geschüttelt. Es bleibt nichts bestehen, was nicht niet- und nagelfest ist: Bräuche, Traditionen, Vorstellungen, was christlich ist und was nicht christlich ist, alles ist im Sturm.“ (Foto: Brehm)
Dass es ein Sturm sei, der sich 1949 vielleicht erst mit einem leisen Säuseln bemerkbar gemacht habe, das sei heute zu erleben, so Söder. „Es wird an allem gerüttelt und geschüttelt. Es bleibt nichts bestehen, was nicht niet- und nagelfest ist: Bräuche, Traditionen, Vorstellungen, was christlich ist und was nicht christlich ist, alles ist im Sturm.“
Abspringen vom Alten, von dem, was vertraut ist
Die Tatsache, dass Pater Kentenich von immanenten, also von innen heraus kommenden Kräften spreche, die zu einem Gestaltwandel von Kirche, Gesellschaft und Welt drängten, seien ein Hinweis darauf, dass es überhaupt nichts nütze, nur darauf zu hoffen, dass der Sturm schon vorübergehe. Vorsehungsgläubig deute Kentenich den Sturm so, dass Gott selbst diesen Gestaltwandel wolle. Deshalb habe Kentenich gefordert, sich vorbehaltlos auf diesen Gestaltwandel einzustellen, was in der Metapher „der Kirche am neuesten Ufer“ zum Ausdruck komme. Kentenich meine damit, „abzuspringen vom Alten, von dem, was vertraut ist und über einen großen Graben der Unsicherheit zu versuchen, auf der anderen Seite Land zu finden.“ Darum gehe es in der Epistola perlonga und das sei 75 Jahre später für das JKI Anlass, mit zwei Referaten von Schwester Dr. M. Nurit Stosiek und Pater P. Raúl Espina nach der Bedeutung des 31. Mai 1949 für die heutige Zeit zu fragen.
Das JKI freute sich über das große Interesse am Studientag (Foto: Brehm)
Der 31. Mai: Zeitsituation – Problempunkte – Beispiele
Schwester Dr. M. Nurit Stosiek, Schönstätter Marienschwester, unterstrich in ihrem Beitrag, dass sich Kentenich sehr wohl bewusst war, wie viel „Empörung“ und „Gegenschläge“ er mit der Epistola perlonga auslösen könnte. Gleichzeitig sei er aber tief überzeugt gewesen, Stellung nehmen zu müssen. „Es geht im 31. Mai 1949 nicht einfach um die Stellungnahme eines erfahrenen, sogar begnadeten Menschen“, so Schwester Nurit, „es geht um eine Sendung, die dieser Person von Gott aufgetragen ist – theologisch gesehen um ein prophetisches Charisma – und damit um eine Botschaft, die indispensabel herausgerufen werden muss, ungeachtet der Konsequenzen.“
Die Epistola perlonga im Kontext verschiedener Ereignisse im Jahr 1949
Die Referentin führte die Zuhörenden auf den spannenden Weg, die Epistola perlonga im Kontext von Ereignissen ihres Entstehungsjahres zu sehen: Das Jahr 1949 steht sowohl für die Gründung des Europarates, die Unterzeichnung des Grundgesetzes in Deutschland, aber auch für die Scheinwahlen in Ungarn, die das Land zu einem sozialistischen Staat umbauen und die Gründung der Nato aus der damals nicht unbegründeten Sorge vor einem sowjetischen Angriff auf Westeuropa. Pater Kentenichs Thema sei nicht die militärische Okkupation, so Stosiek, es gehe ihm auch „nicht etwa nur um wirtschaftliche, soziale und politische Belange“. Sein Ansatzpunkt sei die schleichende geistige Umprägung der Menschen und ganzer Völker. „In allem geht es ihm darum, das mechanistische Denken zu identifizieren und zu überwinden.“ Denn das sei „ein krankhaftes, ein ungesundes Denken“, es segmentiere die Persönlichkeit, weil „der Verstand gelöst wird vom Willen und vom Gemüt ... Es trennt die Idee vom Leben, die Erstursache von der Zweitursache, die Lebensvorgänge untereinander“.[1]
Schwester Dr. M. Nurit Stosiek (Foto: Brehm)
Die Suche nach dem modernen christlichen Humanismus
Schwester Nurit stellte dar, wie Pater Kentenich auf den Pariser Erzbischof Kardinal Emmanuel Suhard verweist, der in Lisieux ein Seminar zur Erarbeitung neuer Formen pastoraler Arbeit gegründet hatte und darauf aufmerksam machte, die Christen hätten sich zu sehr aus der Entwicklung der modernen Welt herausgehalten. Um ihre Sendung zu erfüllen, so Kentenich, müsse die Kirche eine christliche Synthese, einen neuen Humanismus bringen, der auf den Werten der Welt und den Zielen Gottes beruhe. Pater Kentenich habe in diesem Zusammenhang den Hinweis der amerikanischen Bischöfe aufgegriffen, die davon sprechen, dass der Säkularismus auch von Christen hervorgerufen sei, die zu wenig auf die moderne Lebensproblematik reagiert hätten, weil die Schulung der Laien durch die Kirche nicht genügend die christliche Berufung in der Welt im Blick gehabt habe.
Die Berufung des Weltchristen
Die Berufung des Weltchristen sei Pater Kentenichs Herzensanliegen: die natürlichen Gegebenheiten „durchsichtig“ machen auf die Wirklichkeit Gottes hin und aus der Verbindung mit Gott die weltlichen Gegebenheiten aktiv gestalten. „Gott verlangt auch bei der Neuordnung der heutigen Welt unsere erleuchtete kraftvolle Mitwirkung“. (EP Tb1, S.95) Dabei sei – so unterstreicht die Referentin – das organische Lebensgefühl hilfreich, das eben nicht trennt zwischen Idee und Leben, sondern eine integrierte Frömmigkeit schafft.
Schönstatts pastoraler Ansatz ist hier die Schlüsselfrage: „Wie lernt der Mensch wieder lieben?“ (Foto: Brehm)
„Weitbogige Brücken ins Nichts“ statt „schlichte Brücken zu den Menschen“
Wie Schwester Nurit in ihrem Beitrag weiter deutlich machte, teile Pater Kentenich die Beobachtung Ivo Zeigers – eines vatikanischen Diplomaten und Kirchenrechtlers, der auf dem Katholikentag 1948 in Mainz eine vielbeachtete Rede gehalten hat (vgl. EB Tb1, S. 123ff) – von der Hilflosigkeit der Pastoral angesichts aktueller Lebensfragen. Gerade die Priester würden zu wenig befähigt, den Menschen in ihren tatsächlichen Nöten beizustehen, weil sie „innerseelische Zusammenhänge, vornehmlich solche des unter- und vorbewussten Seelenlebens, nicht mehr verstehen, genauer gesagt, ... nicht mehr gesund organisch denken können“.[2] Es würden „weitbogige Brücken ins Nichts“ geplant, statt „schlichte Brücken zu den Menschen.“, so mache Pater Kentenich deutlich. Es gehe darum, einen neuen Weg des Christseins zu zeigen, der dem Menschen, „dessen Seelenleben so furchtbar zerfasert ist“ (EP Tb2, S. 504), die Fähigkeit zurückgibt, gesund zu lieben; einen Menschen, „in dem alle seelischen Bindungen, alle inneren Bänder zerrissen oder gefährdet sind, wieder in einen gesunden Bindungsorganismus hinein[zubringen]: in personale, lokale und ideenmäßige Gebundenheiten.“ (EP Tb2, S. 503f)
Als Antwort auf die drängenden Zeitfragen betone Pater Kentenich eine organische Erziehung. Sie könne eine Abkehr vom Massenmenschentum ermöglichen und den „Filmmenschen“, der mit äußeren Sinneswahrnehmungen so überschüttet werde, dass für sein Inneres weder Zeit noch Gespür bleiben, neue Wege weisen. Andere zukunftsweisende Stichworte seien für Kentenich das Wachsen in heroischer Kindlichkeit und das Leben mit dem Persönlichen Ideal im Liebesbündnis. „Und genau das wollte er mit seinem Schritt vom 31. Mai 1949 der Kirche anbieten“, so Schwester Nurit. Dabei sei sich Pater Kentenich später durchaus bewusst gewesen, dass die Kirche dieses Angebot weder verstand noch annahm. So habe er im März 1955 in einem Brief an seinen Weggefährten Pater Menningen geschrieben: „Leider hat die spätere apostolische Visitation das Problem trotz ständiger Versuche meinerseits nicht aufgegriffen. Sie blieb bei einigen ungewohnten und deshalb befremdenden Lebensäußerungen hängen, ohne zu deren Lebensquelle und Lebenswurzel, will heißen ohne zum Kern der Organismuslehre und Bindungspädagogik vorzudringen … Früher oder später gilt es, unsere Versuche zu wiederholen und auf uns aufmerksam zu machen.“[3] Und Schwester Nurit schließt mit der Frage: Könnte dieser Anruf uns heute gelten – 75 Jahre nach dem 31. Mai 1949?
Pater Raul Espina (Foto: Brehm)
Ein dreifacher Blick auf die Entfaltung der Sendung des 31. Mai
Pater Raul Espina, aus Chile stammend, heute mitverantwortlich für die Ausbildung der Schönstattpatres und Leiter des Sion Institutes der Schönstattpatres für Erziehung, Formation und Pastoral, stellte seinen Beitrag unter das Thema „Ein dreifacher Blick auf die Entfaltung der Sendung des 31. Mai“. Zunächst blickte er auf die drei Jahre nach Pater Kentenichs Rückkehr aus dem Exil in Milwaukee. Seiner Ansicht nach gehe es dem Gründer Schönstatts bei allen Schulungen für seine Schönstattfamilie darum zu zeigen, dass Schönstatt wirklich ein Gotteswerk ist. In dieser Gewissheit habe Pater Kentenich zu den unmissverständlichen Aussagen in der Epistola perlonga, also im Schritt vom 31. Mai gefunden. Wenn Pater Kentenich in den letzten drei Jahren seines Lebens über den 31. Mai spreche, geschehe das immer in Verbindung mit der Sendung der Gottesmutter und ihrer Bedeutung für das Abendland. Dabei sei sein pädagogischer Blickwinkel die Frage, was den Menschen zur Verankerung in Gott und zum „ganz Mensch sein“ führe.
Den „zweiten Blick“ wirft Pater Espina auf die Zeit des Aufenthaltes von Pater Kentenich in Chile 1952. Pater Kentenich zeige sich überzeugt, dass Maria mit Hilfe der Chilenen Chile und die Welt erneuern wolle. Dabei spiele das „Zuhause-Sein“ im natürlichen und übernatürlichen Organismus – als eine von Gott gegebene Ordnung – eine entscheidende Rolle. Kentenich verlasse Chile damals mit dem beruhigenden Gefühl, die Sendung des 31. Mai 1949 in guten Händen zu wissen.
Für heute aktive Schönstätter ist es wichtig auf diesen Prozess zu achten: „Etwas wagen“ – „auf Reaktionen achten“ – „sich neu besinnen“ – „Neues integrieren“ – „eine Formulierung suchen“ – „sie verkünden“ – „überprüfen“. (Foto: Brehm)
Der „dritte Blick“: Das 1952 sich andeutende Verständnis für die Sendung des 31. Mai geht durch Streitereien in der chilenischen Schönstatt-Bewegung zunächst verloren. Schmerzhaft erfährt die Bewegung wie schädlich mechanistisches Denken sich auswirkt. „Schlimm scheinen mir nicht die realen Differenzen zu sein…“, schreibt ein Schönstattpater an Pater Kentenich, „sondern das unbewusste Streben, die eigene Art als die einzig richtige darzustellen, den anderen zu entwerten, um das allein maßgebende Haupt zu sein.“ Heilung und ein ganz neues Verständnis der Sendung des 31. Mai habe sich durch das Geschenk des „Kreuzes der Einheit“ für das Schönstatt-Heiligtum in Santiago de Chile ergeben: Christus in Einheit mit Maria – das Christusbild einer jungen Generation, das dazu beiträgt, dass die Vertreter der verschiedenen Richtungen wieder zueinander finden.
Pater Raul fasst seinen Beitrag damit zusammen, dass das Thema des 31. Mai für Pater Kentenich selbst ein Lernprozess gewesen sei und Entwicklungsschritte mit sich gebracht habe. So sei z.B. am Anfang zunächst nur vom „organischen Denken“ die Rede gewesen. Erst in den letzten Jahren seines Lebens habe Pater Kentenich die Formulierung vom „organischen Denken, Leben und Lieben“ verwendet. Pater Kentenich habe selbst die Erfahrung seines Lebens gebraucht, um sich klar darüber zu werden, was der 31. Mai bedeute und wie er weitergehen könne.
Im Gespräch mit den Referenten (Foto: Brehm)
Weite Perspektiven
Mit Textarbeit zu Ausschnitten der Epistola perlonga und einem Podiumsgespräch mit den Referenten und Gesprächsgruppenleitern bot sich am Nachmittag für die Teilnehmenden die Möglichkeit, Themen des Briefes vom 31. Mai zu vertiefen und sich weiter damit auseinander zu setzen. Mit dem Ausblick darauf, dass der erste Teilband der neuen „historisch-kritischen Ausgabe“ der Epistola perlonga nach Ostern im Patris Verlag erscheinen wird sowie mit einer abschließenden Gebetszeit in der Hauskapelle des Hauses Berg Moriah, endete ein Studientag, von dem die Teilnehmenden weite Perspektiven mit auf den Weg nehmen konnten.
[1] Dass neue Menschen werden“. Bearbeitete Nachschrift der Pädagogischen Tagung 1951. Schönstatt-Verlag, 31996, S.72.
[2] Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form, Vallendar-Schönstatt 1971, S. 194f.
[3] Brief vom 14.3.1955 an Pater Menningen, ASM.