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1. November 2023 | Kommentar der Woche | 

Christian Hennecke - Heiligkeit heißt sich verwurzeln


(Foto: Ilona Ilyés, Pixabay)

(Foto: Ilona Ilyés, Pixabay)

Kommentar der Woche:

Heiligkeit heißt sich verwurzeln

Dr. Christian Hennecke | Hildesheim (Foto: basis-online.net)

Dr. Christian Hennecke | Hildesheim (Foto: basis-online.net)

 

 

 

 

 

Christian Hennecke

Heiligkeit heißt sich verwurzeln

01.11.2023

Wir sind auf dem Weg in eine andere Gesellschaft und eine andere Weltordnung, die nur wenig an eine Zeit erinnert, aus der wir kommen. Sie hatte die Illusion des Friedens und des Wohlstands und der Gerechtigkeit vermittelt, auch wenn wir wussten: so ist es nicht. Auch in den vergangenen Jahrzehnten gab es ungerechte Kriege, Flucht, Hunger und Not – wie eigentlich immer in der Welt zu allen Zeiten. Aber es schien in den vergangenen Jahrzehnten einfacher, die Guten von den Bösen zu unterscheiden, und es gab ein prekäres Gleichgewicht der Macht, wenigstens in unserem Kontext. Und wir konnten das Chaos von Ferne im wachsenden Wohlstand betrachten.

Das ist vorbei. Der Terror in Israel, der wieder aufgeflammte ewige Konflikt in Palästina und Gaza, der heiße Krieg in der Ukraine, die immensen Flüchtlingsströme, die wankende Krisendiplomatie, das Ende von einst stabilen Sicherheiten – und auch die deutlich werdende Klimakatastrophe stellen uns in eine immense unsichere Ratlosigkeit und Desorientierung. Da fällt es leicht, nach schnellen Lösungen zu suchen, schwarz und weiß, gut und böse fix zu unterscheiden, starken Autokraten zuzujubeln und sich in diesem Chaos mitreißen zu lassen. Es sind apokalyptische Zeiten.

Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe“, so sagt Jesus in seinen apokalyptischen Zukunftsreden. „Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren und dass jener Tag auch nicht plötzlich überrascht wie eine Falle; denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen. Wacht und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt“ (Lk 21, 28.34-36).

In Wirklichkeit kennt jede Zeit ihre Apokalyptik und immer sind wir Menschen in derselben Herausforderung: wir werden leicht mitgerissen, reagieren, kämpfen mit und lassen uns in den apokalyptischen Strudel einsaugen, haltlos, desorientiert, uns sorgend oder – je nach Mentalität – um uns schlagend.

Das Fest Allerheiligen, das die Kirche heute feiert, wirkt demgegenüber auf den ersten Blick entrückt und von aller Unbill abgehoben, und ist es doch bei näherem Hinsehen gerade nicht. Hier geht es um alle jene Persönlichkeiten, Frauen wie Männer, die im Lauf der Weltgeschichte eben gerade dies nicht taten, was uns so leicht passiert. Denn alle lebten in Zeiten des Chaos, der Krise, der Kriege und der ewigen Konflikte – und haben Halt gefunden. Heiligkeit ist eben nichts anderes als jene Verwurzelung, die sich nicht mitreißen lässt mit den apokalyptischen Malströmen. Es ist die Verwurzelung in eine Wirklichkeit, die tiefer reicht als das, was alle zu allen Zeiten erlebt haben und doch all das nicht ausblendet. Das „Wachsam sein und Beten“, von dem Jesus spricht, meint ja nichts anderes, als in allem Chaos das Haupt erheben zu können, gerade und aufrecht seinen Weg zu gehen, im Wissen darum, dass mittendrin Begegnung, Neuanfang und Leben sein kann, weil mittendrin auch die Gegenwart des Geheimnisses Gottes da ist: mitten in Gaza, mitten in den verwüsteten Kibbuzen Israels, mitten auf der Flucht, mitten im Krieg.

Wenn man schaut, wie viele unterschiedliche Heilige zu den herausforderndsten Zeiten es gab, sind wir eingeladen, uns dieser „Wolke von Zeugen“ anzuschließen. Nicht in der Imitation irgendwelcher Frömmigkeitsstile oder angenommener heroischer Taten, sondern in der Verwurzelung in dem Geheimnis Gottes, der auch heute da ist. Das könnte wichtig sein – das ist wichtig für uns selbst, damit wir in all dem, was passiert frei bleiben und erlösend lieben können – und das ist wichtig für andere, weil sie dann vielleicht Halt und Geschmack finden an einer Verwurzelung in entwurzelten Zeiten.

Christian Hennecke

Quelle: www.basis-online.net 
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung


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