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21. Oktober 2023 | Oktober-Treffen | 

In den Rissen – Strukturlinien einer neuen Zeit


Prof. Dr. Joachim Söder, Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Aachen (Foto: Klaus Kröper)

Prof. Dr. Joachim Söder, Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW, Abt. Aachen (Foto: Klaus Kröper)

Sr. M. Nurit Stosiek. „Am Horizont zeigen sich – langsam deutlich erkennbar – die Strukturlinien einer neuen Weltordnung; eine alte Welt ist am Verbrennen.“ Dieses Wort, das J. Kentenich als Gefangener des NS-Regimes aus dem Gefängnis schreibt, steht über der Zeitdiagnostik, die Prof. Dr. Joachim Söder am Anfang des Oktobertreffens gibt. Söder, Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule Aachen und Präsident des Josef-Kentenich-Institutes, greift in seiner Analyse Grundelemente des Jahresmottos auf.

„Risse“: Drei globale Trends

Zunächst geht es um „Risse“: Drei globale Trends. Er wolle nicht nur über Haarrisse sprechen, so der Referent, sondern drei große Bruchkanten in den Blick nehmen, die einen massiven Umbruch anzeigen. Die erste Bruchlinie formuliert er mit

Vermassung versus Selbstoptimierung

Das Wort von der Vermassung hat im Zeitalter der Digitalisierung und Eventkultur eine neue Bedeutung. Großevents wie „Wacken“ oder „Rave the Planet“ schaffen einen kollektiven Rauschzustand. Verbunden wird das Ganze mit Werten wie Liebe, Frieden, Freundschaft, Diversität, Respekt. „Dahinter steckt die Suche nach ‚Mehr‘, nach etwas, was die normalen bürgerlichen Alltagsstrukturen nicht hergeben“, so Professor Söder. In den 70er-Jahren war ‚Manipulation‘ ein Negativbegriff. Heute ist es attraktiv, Influencer zu sein. Manche haben eine Million Follower, die sich beeinflussen lassen wollen, weil sie Teil von etwas Großem sein wollen. Andererseits zeigt sich der Zug zur Selbstoptimierung. Per Tiktok oder Instagram setzen sich Millionen Menschen in Szene. Aber da viele das Besondere machen, ist das Besondere gar nichts Besonderes mehr, so Söder. Selbstoptimierung ist Megatrend, das zeigen Worte wie: „Mach aus deinem Leben mehr!“ „Versuche dich zu inszenieren.“ „Achte auf deine Gesundheit, auf dein Mindset.“ Der Riss, der sich hier auftut, ist ein Eintauchen in die Masse und zugleich die Sehnsucht nach der Einzigartigkeit des eigenen Lebens.

Die zweite Bruchlinie:

„Belonging without believing“ versus „Believing without belonging“

Diese beiden Varianten beobachtet die englische Soziologin Grace Davie: Es gibt Menschen, die zur Kirche gehören, ohne zu glauben und solche, die glauben, ohne dazuzugehören. Aktuelle Studien zeigen es: Die Kirchenbindung nimmt rapide ab, die Zahl der Nichtgläubigen steigt massiv. 2017 gab es erstmals in der Geschichte Deutschlands seit der Reformation mehr nicht getaufte als getaufte Kinder. 2060 wird sich die Zahl der Kirchenmitglieder in Deutschland um 49% verringert haben, vor allem durch weniger Taufen und Neuaufnahmen und die enorme Zunahme von Austritten. Auch viele von denen, die noch in der Kirche sind, glauben nicht mehr, sondern sind innerlich weit weg. Umgekehrt gibt es Menschen, die längst von der Kirche weg sind, aber persönlich den Glauben pflegen. Die Zahl ist wachsend. Die englische Soziologin Grace Davie beobachtet das Phänomen der Stellvertreterreligion: Viele Menschen, praktizieren ihren Glauben nicht, aber sind froh, dass es eine kleine Minderheit tut. Zu bestimmten Punkten nehmen auch sie gern religiöse Dienstleistungen an, bei Taufen, Hochzeiten und vor allem bei Beerdigungen. – Eine dritte Bruchstelle:

Post-Christlich versus Post-Säkular

Hier verweist Söder auf verschiedene Bestrebungen von atheistischen Kreisen, religionsfreie Zone zu schaffen. „Wir leben in einer nachchristlichen Zeit, aber gleichzeitig in einer post-säkularen Zeit, in der plötzlich Menschen zunehmend das Säkulare überwinden wollen“, so Söder. Er zeigt es am Beispiel der in vielen Großstädten zu findenden Bewegung „Sunday Assembly“. Bekennende Atheisten treffen sich regelmäßig zu einer „Andacht ohne Gott“, die Strukturelemente des christlichen Gottesdienstes hat. Die Bewegung sucht nach einem besseren Leben, die Glaubenssätze sind: „Lebe besser. Hilf oft. Staune mehr.“

Die Kluft zwischen den Rissen als Raum für Neues

Spannend ist, wie es dem Referenten dann gelingt zu zeigen, wie sich durch die Risse neue Räume – Schritte zur Lösung – auftun: So sei Personalisierung ein Weg, der die Suchbewegung sowohl der Vermassungs- wie der Selbstoptimierungstendenz beantwortet. Die zweite Bruchkante zwischen ungläubiger Kirchenmitgliedschaft und Glaube ohne Mitgliedschaft weise auf eine stärkere Entinstitutionalisierung hin. Und neue Formen spiritueller Praxis sind gleichermaßen Antwort auf eine post-christliche wie eine post-säkulare Gesellschaft.

Professor Söder nennt das Ergebnis einer qualitativen Studie an Menschen, die auf der Schwelle sind, ob sie in der Kirche bleiben oder sie verlassen: Kirche hat dann eine Zukunft, wenn die Menschen authentisch sein können, Gemeinschaft erfahren und Glaube erfahrungsgesättigt ist.

Die abschließende These lautet: Äußerliche Bindungen (Institutionenzugehörigkeit) und Praktiken werden zunehmend durch persönliche Bindungs- und Praxisformen ersetzt. Das könne uns Zuversicht geben, denn gerade hier liegen Stärken der Spiritualität Schönstatts.

 


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