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18. April 2021 | Worte des Bewegungsleiters | 

„Erst wenn man das Leben kennt …“


Jahresmotiv 2020/2021 der Schönstatt-Bewegung in Deutschland (Grafik: Maria Kiess / POS Brehm)

Jahresmotiv 2020/2021 der Schönstatt-Bewegung in Deutschland (Grafik: Maria Kiess / POS Brehm)

Liebe Mitglieder und Freunde der Schönstatt–Bewegung,
liebe Leserinnen und Leser von www.schoenstatt.de,

Es ist lange her. Die Zeit der Berufungsklärung im Noviziat der Schönstatt-Patres war eine Zeit mit vielen persönlichen und geistlichen Themen. Wenn ich alte Aufzeichnungen lese, wundere ich mich, an was ich mich gar nicht mehr erinnern kann, und ich entdecke manches, was mir seit dieser Zeit immer wieder in den Sinn kommt. In dieser Zeit habe ich verschiedene Gebete zum Heiligen Geist für mich entdeckt und gesammelt. Mit der Pfingstsequenz (GL 344), dem Gebet aus dem Gottesdienst vom Pfingstsonntag, habe ich mich mehr beschäftigt und sogar mit einem Wörterbuch und meinem Schullatein versucht, eine eigene deutsche Übersetzung zu fabrizieren.

Ich wollte mir selber deutlichen machen, dass mir diese Bitten um das Wirken und die Gaben des Heiligen Geistes sehr wichtig sind. Beim Pfingstfest selber hat dann unser Noviziatsleiter darüber gesprochen, dass man dieses Gebet erst versteht, „wenn man das Leben kennt“. Ich habe mich damals gefragt, wann das wohl bei mir der Fall sein wird.

An jedem Pfingstfest denke ich an dieses Wort, dass man das Leben kennen muss. Und tatsächlich bekommen die Worte des Gebetes mit jedem Jahr mehr Gewicht: „Gaben – Tröster – in der Not – in Hitze Kühlung – glückselig Licht – bis auf der Seele Grund – ohne ihn kann nichts heil sein – reinigen – neues Leben, statt Dürre – heilen – Erlösung von Kälte, Härte, Erstarrung – das Volk, das auf seine Gaben vertraut – das Volk, das so die Zeit besteht – und das Volk, das Vollendung erhofft.“

Vielleicht geht es Ihnen auch manchmal so, dass ein eigentlich bekanntes Gebet oder eine bekannte Stelle aus der Heiligen Schrift mit einem Mal genau die Situation berührt oder beantwortet, in der Sie sich gerade erleben. Je mehr man das Leben kennt, umso mehr kennt man, wie tief Erfahrungen von Schwierigkeiten und von Dankbarkeit gehen können. Im Blick auf sich selbst und im Blick auf andere kennt man die Grenzen des Machbaren. Ein Schritt des Vertrauens auf Gott hin und das Bitten um seine Gaben kommen aus tieferen Schichten des Herzens als sonst bei oft wiederholten Gebeten. „Erst wenn man das Leben kennt“, ist selbst ein Satz, der Vertrauen in Gott zum Ausdruck bringt. Mit dem Satz behauptet man ja, dass gerade dann, wenn das Leben uns vor Herausforderungen stellt, dass gerade auch dann die schönen Gebetsworte umso richtiger werden und sich dann als tragfähig erweisen werden. Es ist ein Zeugnis voller Hoffnung, dass man, was immer auch kommt, mit Gott rechnen darf. Der jetzige Moment und auch alle ungewissen Momente in der Zukunft haben Platz in diesem Gebet.

Grenzerfahrung oder Schwelle

Viele aktuelle Entwicklungen können wir mit dem Wort Grenzerfahrung beschreiben. Die langwierige Belastung der Pandemiesituation bringt unsere Alltagswelt im Kleinen und im Großen an die Grenze. Belastungsgrenzen sind erreicht und überschritten.

Die Dramatik der kirchlichen Auseinandersetzungen und Problemstellungen geht inzwischen für immer mehr Menschen über das hinaus, was sie aushalten wollen und können. Und egal wie konkret und begrenzt ein Thema auch sein mag oder diskutiert wird, alles wirkt hinein in eine Gesamtenttäuschung im Blick auf Kirche und Glaube. Hoffnung und Zuversicht werden immer weniger wach angesichts von Gegeneinander und einem Mangel an Perspektiven.

Und auch mit Schönstatt und den Fragen um unseren Gründer erleben sich viele von uns wie in einer Bergwanderung im Nebel, wo die Hoffnung auf einen freien Panoramablick über den Wolken erst noch eine anstrengende Wegstrecke vor sich hat.

Und alles bewirkt, dass man auch im eigenen Leben Schwächen und Ohnmacht stärker spürt und aushalten muss. Bischof Dr. Michael Gerber hat die vielen Belastungen mit dem Wort „Armseligkeit“ zusammengefasst. „Mehr denn je erleben wir in diesen Wochen einen Zustand unserer Kirche, den man mit dem Begriff ‚armselig‘ umschreiben kann.“ (Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2021)

Und doch deutet er die Situation nicht als eine Grenze, an der es nicht mehr weitergeht, sondern er sieht sie als eine Schwelle für eine tiefgreifendere Veränderung, als wir sie selber machen oder organisieren könnten. Gerade die Erfahrung einer tiefen „Armseligkeit“ ist das Tor, durch das Gott die Erneuerung der Kirche bewirkt. „Ich glaube, es geht darum, dass wir uns formen lassen und tiefer begreifen: Es sind in letzter Konsequenz nicht wir, die die ‚Kirche machen‘ – um dieses Verb zu verwenden, das sich in manchen Formulierungen unserer Tage findet –, sondern es ist der Herr, der uns führt. Nicht wir kennen das Ziel, sondern er. […] Es ist möglich, dass der Herr uns in eine Gestalt von Kirche hineinführt, die uns auf den ersten und auch auf den zweiten Blick armselig vorkommen wird, eine Form, die jenseits dessen liegt, was wir gerne hätten.“ (Hirtenwort zum 1. Fastensonntag 2021)

Es geht dabei um den Zusammenhang von der Angst Jesu am Ölberg und der Freude des Ostermorgens. Es geht um den Zusammenhang von Leid und Tod Jesu und dem ganz neuen Leben der Auferstehung. Es geht um die göttliche Antwort auf die endgültige menschliche Grenzerfahrung: das endgültige und bleibende Osterfest für jeden Menschen und für alle Zeiten.

Menschliche Grenzen werden zur Schwelle, wenn wir an der Schwelle lernen und es geschehen lassen, dass wir zuerst und vor allem den Weg mitgehen sollen. So schreibt Bischof Gerber weiter: „Ich glaube, dass das ein wesentlicher Auftrag der Kirche unserer Tage ist – Jesus zu finden in der eigenen Armseligkeit und Jesus zu finden in der Armseligkeit Anderer. Das ist ein Vorgang, der zutiefst mit dem Osterereignis zu tun hat, von dem her unsere Kirche auch heute ihre Erneuerung erhält. Denn geeint und ausgerichtet auf ihre Sendung wurde die Kirche von ihrem Ursprung her durch die Erfahrung von Ostern.“

50 Tage lang Ostern geschehen lassen

Die Osterfeiertage sind schnell vorbei. Über mehrere Tage werden in den Gottesdiensten die verschiedenen Begegnungen vorgelesen, die die Apostel mit dem auferstandenen Herrn hatten. Von da an begreifen sie ihre Lebensaufgabe darin, „Zeugen der Auferstehung“ zu sein.

Wie lange es wohl gedauert hat, bis jeder von diesen Aposteln begriffen hat, was es heißt, dass Jesus lebt und gegenwärtig ist und wirkt? Vielleicht müssten wir besser fragen, wie lang es wohl gedauert hat, bis jeder von ihnen ergriffen wurde von dieser ganz und gar göttlichen Kraft, die Ostern für jeden bereithält? Der kirchliche Kalender jedenfalls lädt uns ein, 50 Tage lang Ostern zu feiern, Ostererfahrungen zu suchen und Ostern an uns geschehen zu lassen. Genau das ist es, was der Weg hin zum Pfingstfest bedeutet. Durch die Kraft des Heiligen Geistes geschieht an uns das, was die Apostel zu den ersten „Zeugen der Auferstehung“ gemacht hat. Ostern ist eine wirkliche Kraft im Menschen. Die Gaben des Geistes übersetzen Ostern hinein in die unterschiedlichsten Lebenssituationen. Die kleinen und die großen Herausforderungen werden zur Schwelle. Die kleinen und großen Grenzen werden zur Einbruchsstelle göttlichen Wirkens, zum Ort der Erlösung und zum Ort seiner Nähe und Liebe.

Viele Zuspitzungen sind im Coronajahr zusammengekommen. Mehr als sonst dürfen wir darum beten und darauf vertrauen, dass Gott uns auch mit größerer und tieferer Ostererfahrung beschenken will. Ich freue mich darauf, mit vielen von Ihnen im gemeinsamen Pfingstgebet (siehe Seite 11 der Pfingstnovene) dieses göttliche Ostergeschenk miteinander und füreinander zu erbitten.

Ich wünsche Ihnen allen eine tiefe und bleibende Osterfreude und grüße Sie vom Heiligtum der Gottesmutter in Schönstatt

P. Ludwig Güthlein
Schönstatt-Bewegung Deutschland


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