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15. Oktober 2016 | Oktobertreffen2016 | 

Kultur aus dem Liebesbündnis – Veränderung für Alltag und Gesellschaft


Kultur aus dem Liebesbündnis –
Veränderung für Alltag und Gesellschaft

Pater Ludwig Güthlein, Schönstatt

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15. Oktober 2016

Disposition

1. Die Nacht des Heiligtums – das Mottolied 2016

„Die Erde bebt, das Gehn fällt schwer. Jetzt ist Zeit zu fliegen.“

Ein vielschichtiges Beben:
Globale Umwelt- und Gerechtigkeitsfragen – Kriegsherde – Projekt Europa – Kirche in unserem Land – Nach-Jubiläums-Schönstatt – persönliche Grenz- und Ohnmachtserfahrungen

2. Alltag und Gesellschaft: Verlust und Wiedergewinnung der eigenen Subjekthaftigkeit

„In einer Welt, in der alles zusammenhängt, kann auch jeder das Ganze mitverändern“

z. B. die „Arche“: die von einer Behinderung geschwächten Menschen Wächter und Wegweiser für einen Weg in eine humanere Gesellschaft

z. B. „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“ (www.tomorrow-derfilm.de)

z. B. „den Kern auf einen Fingernagel schreiben können“ (P. K.)

z. B. „macht euch keine Sorgen … bringt mir nur reichlich Beträge zum Gnadenkapital“ (GU)

Ich bin wertvoll! Und: Was ich tue, hat Bedeutung!

3. Unser Ansatzpunkt „Bündniskultur“

  • Keine Angst vor Zahlen
  • Bieten wir Veranstaltungen oder/und Beziehungen?
  • Geschenk unserer Geschichte „Schönstatt vor Ort“
  • Mindestens zu zweit auf dem Weg
  • Kirche entdeckt sich neu als „Kirche im Kleinen“
  • Politik: kulturelle Synergien – die bessere Zukunft
Pater Ludwig Güthlein, Schönstatt-Bewegung Deutschland (Foto: Brehm)

Pater Ludwig Güthlein, Schönstatt-Bewegung Deutschland (Foto: Brehm)

„Mit dir, Maria, bin ich bereit, Zeugnis zu geben, es ist an der Zeit.
Weltweit verbündet, gehn wir nie allein.
Als Werkzeug der Liebe stehn wir für dich ein! Abflug. Hier bin ich.“

Mit Frau Gertraud Wackerbauer hatte ich überlegt, ob das Jahresmotto nicht auch musikalisch verarbeitet werden könnte. Der biblische Satz an sich ist nicht so melodisch. Irgendwann, in einem Moment, war dann Formulierung und Musik in ihrem Kopf und in ihrem Herzen: „Du lädst mich ein. Lass ich mich ein? ...“ Und ich glaube, es ist ausgezeichnet auf den Punkt gebracht, worum es in unserem Jahresmotto geht.

Das Jahresmotto steht groß vor uns an der Wand. Auch das schöne handliche Schild kann man erwerben und bestellen. Es ist unglaublich günstig. 90 cm; es passt über jede Tür; es kann leicht mehrfach im Haus aufgehängt werden – und ist auch für Privathaushalte geeignet.
(Es wird später in meinem Referat noch mal einen Werbeblock geben.)

Kultur aus dem Liebesbündnis – Veränderung für Alltag und Gesellschaft, steht als Thema über dem Referat.

Unser Anliegen der Bündniskultur soll verbunden und angereichert werden mit dem Jahresmotto. Das Wort und das Motiv „Bündniskultur“ hat uns beschäftigt bis zu einer bewussten Entscheidung bei der Delegiertentagung. Wir glauben, es ist eine Frucht des Jubiläums. Das Motiv und all das, was dadurch angestoßen wurde. Der Blick auf die Felder der Bündniskultur, aber auch dieser Perspektivenwechsel in Richtung Gestaltung, der in dem Wort Kultur steckt. Der Weltjugendtag 2005 hatte als Bündelung in Schönstatt das „Liebesbündnis für die Jugend der Welt“, und der Impuls, der daraus konkret geworden ist, ist die „Nacht des Heiligtums“. Wir haben jetzt 10 oder 11 Jahre eine Schönstattgeschichte mit der „Nacht des Heiligtums“ der Jugend. Das ist eine beachtliche Frucht eines solchen Events und Happenings Weltjugendtag.

Was ist die Frucht vom Jubiläum 2014, die in die Zukunft weist? Wir glauben, dass das etwas mit dieser Bündniskultur zu tun hat und dass das Motto dieses Jahres uns einen Aspekt besonders nahebringt. Die Frucht des Jubiläums, das Memorandum mit seiner Überschrift: „Schönstatt im Aufbruch“ wird für uns im Jahresmotto konkret. Mit der Zusage des Jubiläums im Rücken geht es um den Aufbruch.

Wie schaut Aufbruch aus? Wann kommt denn jetzt der Aufbruch? Was stellen wir uns bei dem Wort Aufbruch vor?
Ich glaube, der Name für diesen Aufbruch in diesem Jahr heißt: sich einlassen auf einen Weg.

Und ich muss sagen, ich bin sehr begeistert von dem Podium, das wir eben erlebt haben. Da könnten noch viele von Ihnen sitzen, die einfach darstellen, auf was sie sich eingelassen haben, und drum herum ist ein Kreis, ist eine Initiative. Man kann staunen, was geschieht, wenn man sich einlässt.
Wenn man sich einlässt auf etwas Bestimmtes, macht man vieles andere nicht. Und ich glaube, da liegt der Kern des Aufbruchs und der Fruchtbarkeit.

1. Die Nacht des Heiligtums – das Mottolied 2016

Sie haben das Handout, wie man sagt, in der Hand und können mitlesen.
Wie wird das Motto Leben?
Ich möchte einsteigen mit der „Nacht des Heiligtums“ in diesem Jahr, mit dem Mottolied. Das hat mich manche Betrachtung beschäftigt, weil es auf eine sehr deutliche und wunderbare Art Lebensgefühl zum Ausdruck bringt und einen inneren Schub hat in die Zukunft.

Im Kehrvers heißt es: „Die Erde bebt, das Gehn fällt schwer. Jetzt ist Zeit zu fliegen.“
Ja, die Erde bebt. Junge Menschen formulieren ein Lied mit dem Kehrvers: „Die Erde bebt, das Gehn fällt schwer. Jetzt ist Zeit zu fliegen.“

Wir alle können leicht das vielfältige Beben, das unsere Zeit durchzieht, beschreiben: die globalen Umwelt- und Gerechtigkeitsfragen etwa. Auch da ist Papst Franziskus ein beachtlicher, beharrlicher Mahner, diese immer wieder ins Bewusstsein zu heben.
Die Kriegsherde, an die man sich fast schon irgendwie gewöhnt hat. Irgendwo gibt es immer Krieg – und doch sind uns diese Kriege viel näher gekommen. Es ist schlimm, was alles geschieht. Ich habe einen Bericht gesehen über führen­de amerikanische Militärs, die bei Obama vorstellig wurden. Und das Anliegen dieser führenden Leute war: Wir müssen den Drohnenkrieg einstellen, denn der produziert Terrorismus. Wenn Menschen in einem Land leben, wo, ohne dass man es richtig sieht und hört, Drohnen kreisen, die jederzeit lasergesteuert präzise eine Bombe abschießen können, dann passiert mit diesen Menschen etwas. Aus dieser Bedrohung wächst Angst, Wut, Radikalismus. Die Militärs sagen, wir müssen damit aufhören, weil wir die nächste Generation von Terroristen produzieren. Sie spüren das Beben und wollen darauf reagieren.

Das Projekt Europa – wir kennen die Talkshows, wir kennen die Meldungen. Interessant ist, was Leute, aus welchen Schichten auch immer, sagen, wenn sie nicht ganz so öffentlich reden. Wie viel Verunsicherung diese Situation in allen Bereichen auslöst. Die Dramatik ist gegriffen mit „Die Erde bebt …“

Pater Penners hat in „Regnum“ einen Artikel geschrieben: Was sagt uns Gott durch diese Situation Europas und was würde unser Vater sagen, wie wichtig wäre ihm das, dass Schönstatt in dieser Situation sich bewährt? Ich muss sagen, es tut mir fast ein bisschen weh, wenn gelästert wird über das Wort „Wir schaffen das!“ von Frau Merkel. Das ist eigentlich eine gute Motivation: Wir können etwas. Wir sind ein starkes Land. Und jetzt wirkt das so dümmlich und billig, wie es dargestellt wird. Wir alle wissen nicht, ob das Projekt Europa hält oder ob es noch mehr auseinanderbricht.

Ja, auch die Situation der Kirche in unserem Land kommt bei diesem Blick auf die Zeit ins Bewusstsein – die Erde bebt –, ich glaube, da haben viele von uns ganz konkrete Erfahrungen, was da an Abbrüchen geschieht und was das in einzelnen Menschen auslöst. Die Suchprozesse, Dialogprozesse, Synoden, die suchen Antworten, finden Antworten, aber werden manchmal von der Realität schon überholt.

Auch das Nachjubiläums-Schönstatt erlebt Abbrüche, ein inneres Beben, wo es nicht weitergeht. Beim Jubiläum hat man noch einmal alle Kräfte mit Freude eingesetzt, eigentlich noch länger, als man wollte – „Da will ich dabei sein!“, das hat viele motiviert. Und jetzt danach merkt man an allen Stellen: Wie geht es weiter, wie können neue Personen einsteigen, hinzukommen?
Wir hatten das auch 2005 beim Weltjugendtag in den Jugendgemeinschaften er­lebt, wie nach dem großen Ereignis hier in Schönstatt viele, die halt bis zum Schluss und noch ein bisschen länger alles mitgetragen haben, dann weg waren.
Das Ringen mancher Zentren. „Die Erde bebt, das Gehn fällt schwer. Jetzt ist Zeit zu fliegen.“
Es ist Zeit – eigentlich für Schönstatt als Ganzes in unserem Land –, sich von etwas anderem getragen zu wissen.

Nicht zuletzt liegt das Beben oft auch in den ganz persönlichen Grenz- und Ohn­machtserfahrungen, die wir alle mit uns herumtragen. Nicht umsonst haben viele Tagungen Themen in Richtung Auftanken, Kräfte schöpfen, etwas, was gut tut und hilft.
„Wie oft versuch' ich, dir zu vertraun, mein Kreuz zu tragen, nicht abzuhaun“, heißt es in dem Lied. „Gott, deine Liebe ist grenzenlos. Auch wenn ich scheiter': Du siehst mich groß!“

Gibt es eine Möglichkeit, diesen Rucksack, den wir spüren, und Dinge, die schwie­rig sind, einfach abzustellen und zu sagen: Wie ist das denn, ohne diesen Rucksack zu gehen?

Bei der Jahreskonferenz der Familien hat uns Ehepaar Brehm ein Referat gehalten über Bündniskultur im Alltag ihres Ehelebens und in der Familie. Sie haben auch von ihrer Zeit im Tschad erzählt, wo das Erlebnis einer fremden Kultur sie sehr herausgefordert hat. Dann sagten sie: Eigentlich war dann die Wende, als durch ein Feuer unser Schrank verbrannt ist und alle Papiere, die wir mitgebracht hatten, weg waren und wir dann mit dem, was wir sind, uns eingelassen haben auf die Situation, die wir vorgefunden haben, auch auf die Menschen.
Bei der Vorstellung von verbrannten Unterlagen spürt man sofort, was anders wird, wenn man sich ganz ausrichtet auf das Sich-Einlassen, auf das Vorsehungsgläubig-sich-führen-Lassen. Geleitet vom Herzen und von dem, was man in sich hat. Man merkt, was passiert, wenn man so den Weg mitgeht und auf dem Weg bleibt.

Was heißt Aufbruch? Ich glaube, wenn das Jahresmotto ein Versprechen der Gottesmutter an uns ist, dann hat es etwas zu tun mit diesem Sich-Einlassen. Es geht darum, neu zu spüren und zu finden: Das ist mein Ort, das ist mein Projekt oder meine Art, wie ich mich von Schönstatt aus einsetzen kann und einsetzen möchte.

2. Alltag und Gesellschaft: Verlust und Wiedergewinnung der eigenen Subjekthaftigkeit

Der zweite Schritt ist überschrieben: Alltag und Gesellschaft. Das klingt nicht allzu vielsagend. Aber ich halte diese beiden Worte für sehr wichtig, ein bisschen sogar für den Knackpunkt unserer Überlegungen. Es gibt viele Beobachtungen, viele Beschreibungen darüber, dass das auseinandergefallen ist. Was kann man für die Gesellschaft, für das große Ganze tun – und wie erlebe ich mein kleines, unbedeutendes alltägliches Leben? Alles, was ich tue, ist ein Trop­fen auf dem heißen Stein, egal, wo ich mich engagiere. Und vielleicht geht das auch uns so, gerade als Schönstätter, als religiöse Menschen, als die, die mit einem inneren Feuer und einer inneren Vision leben, dass doch von Schönstatt eine große Kraft, ein Gnadenstrom ausgeht. Und wir möchten sehen, wo dieser Gnadenstrom Bäume und Blüten und Früchte zum Wachsen bringt. Wir können ja auch manches sehen. Aber wenn man dann auch die Enttäuschungen erlebt und das Unerfüllte, dann ist das eine innere Last.

Ich glaube, es war die Stärke des jungen Schönstatt und es wird die Stärke des „jungen“ Schönstatt hier im nächsten Jahr sein, dass sich das berührt, dass wir merken, das kleinste alltägliche Leben hat etwas mit dem großen Ganzen, mit unseren Zielen und Visionen zu tun. Es geht, so habe ich das in soziologischen Texten aufgenommen, um eine Wiedergewinnung der eigenen Subjekthaftig­keit. Das klingt interessant und ungewohnt. Erleben wir uns als Subjekte unse­rer eigenen Lebensgeschichte und als gestaltende Kräfte unserer Umgebung, oder ist uns das weggerutscht?

Das ist eine etwas andere Frage als die: Bin ich wertvoll? – Wir haben uns viel damit beschäftigt. Und das ganze letzte Jahr – die Pforte der Barmherzigkeit – hat uns noch einmal hineingeführt in diesen unzerstörbaren Wert, den jeder hat in den Augen des unendlich barmherzigen Gottes. Aber es geht um die Frage: Hat das, was ich tue, Bedeutung? Ist das wirklich wichtig? Oder ist es am Ende doch egal? Und wir spüren, das trifft noch mal eine andere innere Schicht. Denn wir möchten gerne etwas auf die Beine stellen. Wenn da nichts geht, wenn man die Erfolglosigkeit immer wieder spürt, dann zerrinnt einem auch die Freude an den Zielen und an den Visionen.

Alltag, Gestaltung des Alltags, Gestaltung einer Alltagskultur, und das als Beitrag unseres Hineinwirkens in die Gesellschaft, in die größeren Zusammenhänge stellen, ich glaube, da liegt eine Schlüsselherausforderung für uns.

Es gibt manche, die meinen, es würde sich etwas umstellen in unserer Zeit – obwohl wir über 7 Milliarden Menschen[1] sind und das Gefühl haben, jeder ist nur noch ein Sandkorn. Es entsteht ein neues Lebensgefühl. Es findet eine Wiedergewinnung der eigenen Wichtigkeit statt. In einer Welt, in der alles zusammenhängt, kann auch jeder das Ganze mitverändern. Das ist dasselbe, aber von der anderen Seite angeschaut. Um so einen Perspektivenwechsel geht es uns.

Aber dafür braucht es den richtigen Ansatzpunkt, es braucht die Stelle, wo ich sage: Ja, da lasse ich mich ein. Das große Ganze habe ich im Blick und mit inne­rer Leidenschaft lasse ich mich darauf ein und sehe darin die Fruchtbarkeit. Und das ist der Weg, wo ich mit dem Dazukommen Jesu rechne.

Es gibt immer mehr solche Zeichen, solche Texte, solche Initiativen, die diese Perspektive an das Leben anlegen.

Vielleicht kennen viele von uns den Film „Ziemlich beste Freunde“ [2]. Es geht um eine wahre Biografie: Die Geschichte vom querschnittsgelähmten Philippe und seinem Pfleger Abdel.
Philipp „ist 42 Jahre alt und braucht einen Intensivpfleger. Der arbeitslose Ex-Sträfling Abdel kriegt den Job. Mit seiner lebensfrohen und authentischen Art wird Abdel zu Philippes ‚Schutzteufel‘. Zehn

Jahre lang pflegt er ihn und gibt ihm die Lebensfreude zurück“, heißt es in einer Buchbeschreibung zu dem Buch „Ziemlich beste Freunde“.[3]
Abdel ist so unverwüstlich in seinem Engagement und so handfest, wie er mit dem Leben umgeht, dass daraus eine besondere Freundschaft entsteht und etwas in beiden wächst.

Im Anschluss an den Film ist noch ein weiteres Buch entstanden, zusammen mit Jean Vanier, dem Gründer der „Arche“: „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft“. „Die Arche“ ist eine geistliche Gemeinschaft, wo Menschen mit Behinderung und gesunde Menschen zusammenleben. Ich möchte einen Satz zitieren, der in unser Thema interessant hineinspricht. Es geht um das Thema behinderte Menschen und doch auch um eine gesamtgesellschaftliche Perspektive: „Jeder von uns ist verletzlicher und zugleich stärker, als er selbst vielleicht vermutet. Eindrücklich plädieren Philippe Pozzo di Borgo, der Autor von ‚Ziemlich beste Freunde‘, und seine Mitstreiter dafür, diese Erkenntnis zur Grundlage eines neuen Gesellschaftsentwurfes zu machen.“ Der Blick auf Behinderte soll gleichzeitig als Ansatzpunkt für eine neue Gesellschaft verstanden werden. Er führt das dann noch etwas weiter aus und sagt: „Eine neue Ära der Geschichte unseres Planeten ist angebrochen. Die Ältesten unter uns wissen, wie unglaublich groß der technische Fortschritt ist, den die Jüngeren als ganz normal betrachten. Gentechnik und medizinische Entwicklung haben unsere Sicht auf den menschlichen Körper grund­legend verändert. Andererseits gibt es immer noch Kriege, Umweltkatastrophen und Krisen; auch Erschöpfung, Depressionen und Vereinsamung stehen in unserer Gesellschaft auf der Tagesordnung. Als ersten Schritt auf dem Weg in eine humanere Gesellschaft sollte man sich vor Augen führen, dass die von einer Behinderung geschwächten Menschen eine heilsame Rolle als Wächter erfüllen. Früher machten Männer im Dienst der Gemeinschaft nachts in den Ortschaften eine Runde, um über Wohl und Sicherheit der Bewohner zu wachen und bei drohender Gefahr Alarm zu schlagen. In der heutigen orientierungslosen Zeit können unsere Wächter, die verletzlichen Menschen, uns den Weg in eine humanere Gesellschaft weisen.“[4]

Das ist ein interessantes Beispiel dafür, wie ein wichtiger und wertvoller Ansatzpunkt und ein ganz konkretes Engagement – das Zusammenleben mit behin­derten Menschen und das Sich-Einlassen auf sie – gleichzeitig als Beitrag zu einer humaneren Gesellschaft gesehen wird. Das Konkrete hat Wirkung über das konkrete Tun hinaus.
Es geht um diese Art von Ansatzpunkten. Dann kommen Alltag und das große Ganze wieder zusammen.

Schwester M. Veronika hat uns gestern einen interessanten neuen Dokumentarfilm vorgestellt: „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“.[5] Das fängt wie ein Dokumentarfilm an über den Umweltkollaps, auf den die Welt zusteuert, wie man das schon gelegentlich gesehen hat. Aber dann ist es eine Reise durch 10 Länder, wo am Ende Hunderte von Personen vorgestellt werden, die alle in bestimmten einzelnen Projekten tätig sind. Und manch einer, der den Film gesehen hat, sagt, mit so viel Energie bin ich noch nie aus dem Kino herausgegangen. Eine Aufzählung, eine Darlegung, es geschieht an allen möglichen Stellen etwas, und die Probleme sind so, dass sie nur von allen gelöst werden können. Es kommt darauf an, dass Alltag und das große Ganze zusammenkommen.

Pater Kentenich war an dieser Stelle sehr begabt, sehr genial, das konkrete Leben und die Ausrichtung auf das Große einfach und energievoll zusammenzufassen. „Man muss den Kern einer Tagung auf einen Fingernagel schreiben können“, hat er oft gesagt. Das ist eine schreckliche Vereinfachung angesichts der vielen differenzierten und komplexen Probleme, aber es ist genau die Antwort, die wir brauchen. Wir brauchen eine einfache Antwort, die uns aber überzeugt. Einfach, nicht simpel, sondern eine auf den Punkt gebrachte Ausrichtung für unser Leben.
Was in der Gründungsurkunde steht: „Macht euch keine Sorgen. Bringt mir nur reichlich Beiträge zum Gnadenkapital“, ist eine Perspektive, die den Zusammenhang des kleinen, konkreten Alltagslebens mit dem großen Ganzen, mit der großen Vision herstellt. In einer Welt, in der alles zusammenhängt – das ist unsere gnadentheologische Überzeugung, dass alles und alle zusammenhängen –, kann auch jeder seinen Beitrag zur Veränderung des Ganzen geben. Das Wissen: Ich bin wertvoll, ist unsere Verankerung, weil wir in Gott, im Bündnis mit der Gottesmutter verankert sind, aber wir wollen neu die Freude schme­cken: Auch das, was ich tue, ist wertvoll und hat Bedeutung. Ich glaube, dass uns das Jahresmotto und dieses Stichwort „Bündniskultur“ dafür eine große Hilfe sein können.

3. Unser Ansatzpunkt „Bündniskultur“

Bündniskultur, das ist unser Ansatzpunkt. Eine Lebensgestaltung, eine Kulturgestaltung aus dem Liebesbündnis heraus.
Bei der Delegiertentagung wurden einige sehr wertvolle Referate gehalten, und es ist irgendwie Pflichtlektüre für dieses Jahr, darauf zu schauen. Es hilft uns, hineinzukommen in dieses Thema. Kultur gestalten, eine sehr komplexe Kategorie, und gleichzeitig dieses Ringen um den konkreten Beitrag für die Kul­turgestaltung. Was heißt Bündniskultur für uns in der nächsten Zeit, was ist unser Ansatzpunkt?

Das ist jetzt der Werbeblock: Der Schlüssel bekommt einen Schlüsselanhänger, der uns immer daran erinnert, auch wenn es viele verschiedene Schlüssel sind, es geht immer um diese Bündniskultur. Die Schlüsselanhänger sind sehr schön geworden. Ich finde sie toll! Das Grün ist die Farbe des Mantels der MTA, die Farbe ist noch etwas grüner und hoffnungsvoller geworden, aber es ist der Hinweis auf die marianische Bündniskultur. Mal ganz abgesehen davon, dass man ohne einen solchen Schlüsselanhänger nicht ganz vollständig durch das nächste Jahr geht, ist man mit einem auch ein Freund des Bewegungsleiters ...

Sich einlassen heißt, sich auf konkrete Beziehungen, auf konkrete Projekte, auf konkretes Leben einlassen. Ich möchte einen Satz sagen mit der Überschrift:

  • Keine Angst vor Zahlen!

Ich weiß nicht, wie das in Ihnen lebt. Wenn man in einer Situation ist, wie Schönstatt es in seiner Breite an Generationen mit den Veränderungen, die wir erleben, eben ist, fängt man an, immer wieder neu auf Zahlen zu schauen. Aber jede kleine und selbst die größte Zahl, selbst die 7 Milliarden Menschen, sind eine Addition von Einsen. Und es geht uns um diese Eins. Bündniskultur heißt: eine Haltung, eine Fähigkeit entwickeln, immer diesen einen, diese eine Sache, das, was jetzt dran ist, herauszuhören und darauf zu reagieren.

Vielleicht haben Sie den Satz noch im Ohr aus der Betrachtung, was Pater Kentenich über sich selber sagt: „Wir sind die Träger der großen Ideen. … Mir liegt das mehr, in der Stille zu arbeiten, dass lebendige Menschen geschaffen und geformt werden, die diese Ideen wirklich verkörpern. … Die Gottesmutter (im Kapellchen) muss das Weitere machen.“[6]

Bündniskultur beginnt face to face. Eine kleine Kopfrechnung: 5 Schön­statt­gemeinschaften in 20 Diözesen in 10 Jahren: Wenn in jeder Diözese jede Gemein­schaft eine Person – face to face – in Verbindung bringt mit dem Liebesbündnis, mit der Kultur des Liebesbündnisses, sind das nach 10 Jahren 1.000.
Es wäre mal interessant, ob wir in den letzten 10 Jahren 1.000 wirklich neu in eine Begeisterung mit dem Liebesbündnis gebracht haben, ob die das entdecken konnten durch Begegnungen mit uns. – Face to face.
Das klingt im ersten Moment harmlos, aber wenn wir in diesem Jahr die Perspektive finden, es geht um die andern, es geht um einen andern, und ich habe so viel Interesse, so viel Bereitschaft zum Mitgehen, was immer daraus wird, ich glaube, das verändert uns und das wird ein Aufbruch.

  • Bieten wir Veranstaltungen an oder Beziehungen?

In einem Buch von Dr. Christian Hennecke über die Entwicklung der Kirche[7] kommt eine Stelle: Wie soll man die Fragen stellen? Die erste Frage ist: Was soll sich ereignen? Und dann: Was tue ich, damit es sich ereignet? –
Was soll sich ereignen? Oft haben wir nur eine unbestimmte Vorstellung. Möglichst viele sollen kommen! Ja, ist das eine echte Vorstellung? Eine klare Antwort auf die Frage: Was soll sich ereignen? Kann man dafür wirklich etwas tun, damit es sich ereignet? Es geht um einen Perspektivenwechsel hin zu der Fra­ge: Wo öffnet Gott die Türen und wo lasse ich mich ein?

  • Geschenk unserer Geschichte „Schönstatt vor Ort“

Ein Wort zu unseren Schönstattzentren. Wir haben von den Besuchen unseres Vaters gehört und in der Betrachtung gesehen, wie viele Zentren er besucht hat und wie überall sein Feuer etwas bewirkt hat in den Menschen damals und zum Teil heute auch in den Menschen bewirkt. Er hat das sehr unterstützt, die­ses Schönstatt vor Ort. Ich habe das für mich genannt: Geschenk unserer Geschichte, Schönstatt vor Ort. Wir haben viele Heiligtümer und Zentren, und heute wäre die Gründung von so vielen Zentren wohl kaum möglich. Manche schauen etwas neidisch auf andere Länder, die mit Freude ein einziges Schön­stattzentrum gestalten, entfalten, experimentieren. Pater Kentenich hat es un­terstützt, dass diese vielen dezentralen Schönstatt-Niederlassungen vor Ort entstehen. Es braucht dieses vor Ort, sagt er. Was meint er damit eigentlich?

Bei der Veranstaltung „Miteinander für Europa“ in München hat mich der CVJM[8] sehr beeindruckt. Ich habe immer gedacht CVJM München, CVJM Esslingen, um die herum entsteht eine geistliche Gemeinschaft mit 300, 400 Leuten, relativ lokal, und die leben und wirken auf beeindruckende Weise miteinander.

Unsere Schönstattzentren leisten viel, mit vielen Sorgen, wie es weitergehen kann. Die müssen arbeiten wie gute Hotels heute, und das ist ein hoher Anspruch mit all den Auflagen, die das bedeutet, aber sie sind die Ermöglichung eines solchen Vor-Ort-Schönstatts. Wir werden sehen, wie das weitergeht, was es heißt, sich einlassen und damit rechnen: Du kommst hinzu und gehst mit uns.

Das ist auch das nächste Stichwort. Sich einlassen nach dem Jahresmotto heißt:

  • Es sind mindestens zwei gemeinsam auf dem Weg.

Diese Miteinander-Sehnsucht haben wir seit vielen Jahren, und auch da denken wir schnell irgendwie an ein großes, umfassendes Miteinander. Im Sinne des Jahresmottos geht es auch bei dem Miteinander um das konkrete Sich-Einlassen auf Miteinander. Wie wäre das, wenn wir in diesem Jahr den Geschmack an Miteinandergehen neu entdecken? Neu entdecken: Das ist der Kreis von Schönstättern, mit dem bin ich wirklich unterwegs. Wir sind alle miteinander unterwegs, aber da ist diese Weggemeinschaft spürbar. Bei einem Gespräch sagte ein Mitbruder zu mir, erzählend von verschiedenen Begegnungen, die er hatte, und Kontakten und einem Kreis: Ja, ich brauche diese Menschen und diese Kontakte für die „Gesundheit meiner Schönstattseele“. Ja, ich brauche die konkrete Erfahrung des Miteinander-unterwegs-Seins.

In diesem Buch, das ich eben erwähnt habe, beschreibt Christian Hennecke viele, viele Erfahrungen, eine Weltreise eigentlich, über Kirchenentwicklungen, Kirchenaufbrüche, und die sind alle zahlenmäßig nicht so groß, aber es sind erstaunlich viele solcher Aufbrüche, und man kann nur staunen, was passiert, wenn eine Vernetzung von Gebilden, die Leben in sich haben, zustande kommt. Ich glaube, unser Gründer hat Schönstatt so gedacht: eine vernetzte Bewegung von Gruppierungen, von Gemeinschaften, von Projekten, wie immer man das nennen möchte, die aus so einem Sich-Einlassen und Miteinander-unterwegs-sein-Vorgang entstehen.
In dem erwähnten Buch werden – wie ich das so sehe, es ist sehr vielfältig ge­schrieben – Elemente genannt, die solche Aufbrüche haben. Ein Element sind Gemeinschaft und Beziehungen, und zwar konkrete Gemeinschaft, konkrete Beziehungen. Irgendwie überschaubar und echt partizipativ, man kann mitmachen, man kann sich einbringen, es ist ein Miteinanderwerk.

Zweitens, es gibt ein auf andere gerichtetes Interesse. Man schaut auf ein Anliegen, man schaut auf andere Leute, für die möchten wir etwas tun. Man schaut nicht, wie können wir größer werden, man hat ein Anliegen.

Und das Dritte, das finde ich auch interessant: Es gibt einen unmittelbaren und unmittelbar ausgedrückten Glauben. Es gibt keine vorausgesetzte Gläubigkeit, sondern man lebt die miteinander. Wir kommen alle, oder viele von uns, aus einer Kultur, wo dieses unmittelbar gläubige Aussprechen zu den diskreten Din­gen gehört. Es war für viele von uns beeindruckend bei „Miteinander für Europa“, mit welcher Frische man sich einfach für Christus in Europa einsetzen möchte. Darum geht’s, das wollen wir machen. Was das dann genau heißt, ist die nächste Frage. Aber das erst mal so zu sagen. Wir sind da sehr zurückhaltend. Aber es braucht diese naive Frische, diese naiv ausgedrückte Freude am Glauben. Und es gehört zu diesen Aufbrüchen, dass das gemeinsame Gebet, die Anbetung, das gemeinsame biblische Unterwegssein auch gemeinsam gelebt wird.

  • Politik: kulturelle Synergien – die bessere Zukunft

Ein letztes Wort möchte ich sagen zur politischen Perspektive, die wir heute Morgen von Professor Söder gehört haben. Dieses Wort vom Papst, kulturelle Synergien wären das Ziel, ja sind die „Identität Europas“.
Was denken Sie, wenn Sie das hören? Sind Sie da voll dabei? Ist das ein bisschen naiv? Kann das funktionieren? – Ich glaube, es geht wirklich darum, ob wir überzeugt sind, dass Bündniskultur-Schaffen, sich für eine Miteinander-Kultur einsetzen, die bessere Zukunft ist.
Der Versuch, alles wegzuhalten, eine Mauer zu bauen, wie auch immer, ob konkret oder in Gedanken, im Weghalten werden wir die Zukunft nicht schützen. Das wird nur alle ungelösten Probleme der nächsten Generation überlassen. Jetzt Bündniskultur bauen, jetzt daran arbeiten heißt: für die richtige Zukunft arbeiten.

Der Oberrabbiner von England, Jonathan Sacks hat – das war noch vor dem Brexit – eine vielbeachtete Rede[9] gehalten und gesagt: Ja, Dialog und Begegnung bringt die Menschen, auch sehr unterschiedliche Menschen, zusammen, aber Dialog kann sie nicht zusammenhalten. Es braucht einen Bund, ein Bündnis. Und er hat dann von der jüdischen Erfahrung des Bundes gesprochen. Die Politik heute braucht Bündniskultur, würden wir sagen, braucht diesen Schritt von der Begegnung zum Sich-Einlassen, zum Sich-verbindlich-Einlassen auf das Miteinander.

Kommen wir zum Schluss der Betrachtungen.

Ich glaube, es lohnt sich für jede Gliederung, für jede Gemeinschaft, durchzubuchstabieren: Was heißt Bündniskultur für uns? Wie kann das ganz konkret werden? Wie kann dieses Sich-Einlassen im nächsten Jahr aussehen?

Schauen wir zum Schluss noch mal auf das Lied von der „Nacht des Heiligtums“, auf die dritte Strophe:

„Mit dir, Maria, bin ich bereit, Zeugnis zu geben, es ist an der Zeit.
Weltweit verbündet, gehn wir nie allein.
Als Werkzeug der Liebe stehn wir für dich ein! Abflug. Hier bin ich.“

Wir sagen: Er kam hinzu und ging mit ihnen. Wir lassen uns auf den Weg ein. Es ist gut, dass die Jugend das noch dynamischer formuliert:
„Es ist Zeit zu fliegen. Abflug. Hier bin ich!“

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Weltbevölkerung.

[2] Pozzo di Borgo, Philippe, Ziemlich beste Freunde: Ein zweites Leben, Berlin 2012.

[3] https://www.amazon.de/Ziemlich-beste-Freunde-zweites-Leben/dp/3446240446.

[4] Pozzo di Borgo, Philippe, Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft, Berlin 2012, ISBN-13: 978-3446241558.
Siehe zur Ankündigung des Buches: „In Köln stellte der ehemalige Chef des Champagnerherstellers Pommery im Rahmen der lit. Cologne noch ein weiteres Buch vor: „Ziemlich verletzlich, ziemlich stark“, das er mit den Hilfswerk-Gründern Jean Vanier („Die Arche“) und Laurent de Chérisey („Simon de Cyrène“) verfasst hat (Hanser Verlag)“.
http://www.rundschau-online.de/5413472 ©2016.

[5] http://www.tomorrow-derfilm.de.

[6] J. Kentenich, Zur sozialen Frage – Industriepädagogische Tagung (1930), S. 297.

[7] Hennecke, Christian, Kirche steht Kopf – Unterwegs zur nächsten Reformation. Aschendorff 2016, ISBN 978-3-402-13180-0.

[8] Christlicher Verein Junger Menschen.

[9] Europäisches Parlament, Plenardebatten, 19.11.2008, 6. Feierliche Sitzung – Sir Jonathan Sacks.
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+20081119+ITEMS+DOC+XML+V0//DE&language=DE.

Spenden zur Unterstützung des Büros des Bewegungsleiters sind – auch gegen Spendenquittung – möglich auf folgendes Konto: Schönstatt-Bewegung Deutschland – Bank im Bistum Essen – IBAN DE 07 3606 0295 0029 6200 24 – BIC GENODED1BBE


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