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26. März 2014 | Deutschland | 

„Kentenich hat abgeschrieben“ oder „Ehrfurcht – die neu entdeckte Tugend“


Gedenktag der Schönstatt-Familie in der KZ-Gedenkstätte Dachau (Foto: Archiv)

P. Elmar Busse. Seit der Plagiatsaffäre des ehemaligen Dr. Karl Theodor zu Guttenberg gibt es viele, die einen zähen Ehrgeiz entwickeln, die Doktorarbeiten von Prominenten auf nicht deklarierte Zitate zu durchforsten. Annette Schawan, die als mögliche Botschafterin am Hl. Stuhl immer wieder genannt wird, hat gerade einen diesbezüglichen Prozess verloren.

Wenn wir die „Marianische Werkzeugsfrömmigkeit“ – eine Studie, die Pater Kentenich im KZ verfasst hat – durchblättern, dann fällt auf, dass er seitenlang – allerdings korrekt – Albert Schweitzer zitiert. Ein Beispiel: »Überhaupt: Ist nicht in dem Verhältnis des Menschen zum Menschen viel mehr geheimnisvoll, als wir es uns gewöhnlich eingestehen? Keiner von uns darf behaupten, dass er einen anderen wirklich kenne, und wenn er seit Jahren täglich mit ihm zusammen lebt. Von dem, was unser inneres Erleben ausmacht, können wir auch unseren Vertrautesten nur Bruchstücke mitteilen. Das Ganze vermögen wir weder von uns zu geben, noch wären sie imstande, es zu fassen. Wir wandeln miteinander in einem Halbdunkel, in dem keiner die Züge des anderen genau erkennen kann. Nur von Zeit zu Zeit, durch ein Erlebnis, das wir mit dem Weggenossen haben, oder durch ein Wort, das (40a) zwischen uns fällt, steht er für einen Augenblick neben uns wie von einem Blitze beleuchtet. Da sehen wir ihn, wie er ist. Nachher gehen wir wieder, vielleicht für lange, im Dunkel nebeneinander her und suchen vergeblich, uns die Züge des anderen vorzustellen.

In diese Tatsache, dass wir einer dem anderen Geheimnis sind, haben wir uns zu ergeben. Sich kennen, will nicht heißen, alles voneinander zu wissen, sondern Liebe und Vertrauen zu einander haben und einer an den andern glauben. Ein Mensch soll nicht in das Wissen des anderen eindringen wollen. Andere zu analysieren es sei denn, um geistig verwirrten Menschen wieder zurecht zu helfen, ist ein unvornehmes Beginnen. Es gibt nicht nur eine leibliche, sondern auch eine geistige Schamhaftigkeit, die wir zu achten haben. Auch die Seele hat ihre Hüllen, deren man sie nicht entkleiden soll. Keiner von uns darf zum andern sagen: Weil wir so und so zusammengehören, habe ich das Recht, alle deine Gedanken zu kennen; nicht einmal die Mutter darf so gegen ihr Kind auftreten. Alles Fordern dieser Art ist töricht und unheilvoll. Hier gilt nur Geben, das Geben weckt: Teile von deinem geistigen Wesen denen, die mit dir auf dem Wege sind, so viel mit, als du kannst, und nimm als etwas Kostbares hin, was dir von ihnen zurückkommt.

Es lag viel an meiner ererbten Verschlossenheit, dass mir die Ehrfurcht vor dem geistigen Wesen des andern von meiner Jugend an etwas Selbstverständliches war. Nachher bin ich in dieser Anschauung immer mehr befestigt worden, weil ich sah, wie viel Leid und Weh und Entfremdung daher kommt, dass Menschen den Anspruch erheben, in der Seele der andern zu lesen wie in einem Buche, das ihnen gehört, und dass sie wissen und verstehen wollen, wo sie an den andern glauben sollten. Alle müssen wir uns hüten, denen, die wir lieben, Mangel an Vertrauen vorzuwerfen, wenn sie uns nicht jederzeit in alle Ecken ihres Herzens hineinblicken lassen. Es ist ja fast so, dass wir, je näher wir uns kennen, einander um so geheimnisvoller werden. Nur wer Ehrfurcht vor dem geistigen Wesen anderer hat, kann andern wirklich etwas sein. Darum meine ich, dass sich auch keiner zwingen soll, mehr von seinem inneren Leben preiszugeben, als ihm natürlich ist. Wir können nicht mehr, als die anderen unser geistiges Wesen ahnen lassen und das ihrige ahnen. Das einzige, worauf es ankommt, ist, dass wir darum ringen, dass Licht in uns sei. Das Ringen fühlt einer dem andern an, und wo Licht in Menschen ist, scheint es aus ihnen heraus. Dann kennen wir uns, im Dunkel nebeneinander hergehend, ohne dass einer das Gesicht des andern abzutasten und in sein Herz hineinzulangen braucht« ...[1]

Pater Kentenich erwähnt nebenbei, dass ein Mithäftling genau diesen Abschnitt an seine Töchter geschrieben hatte, die vor der Hochzeit standen und denen er ein väterliches Wort in die Ehe mitgeben wollte. Bei anderen Schweitzer-Zitaten betont Pater Kentenich immer wieder, dass er genau so denkt und fühlt wie Albert Schweitzer.

Wir können uns gut vorstellen, dass in der Sklaven-, Narren- und Todesstadt Dachau seitens der Wärter und Wächter die Ehrfurcht mit Füßen getreten wurde. Auch die Enge in den Baracken, die Toiletten- und Waschanlagen ließen keinen Raum für Intimität und Privatsphäre zu. Hinter allem steckte System: Pater Kentenich nannte es „Entpersönlichungsstrategien“ und „Vermassungstendenzen“. Und demgegenüber wollte er sich und seine Mithäftlinge seelisch immunisieren. Das stärkste Immunisierungsmittel sah er in der Pflege der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Lesen wir wieder einen Abschnitt aus der Werkzeugsfrömmigkeit:

„Wer die Zeit mit ihren furchtbaren Nöten überwinden will, muss in Lehre und Leben deshalb zurückfinden zum echten, gottgeprägten Menschenbild. Vielleicht kommt jetzt erst die Zeit, wo wir recht verstehen, weshalb die Heilige Schrift in unmissverständlicher Weise mehrere Male hintereinander [wie] in einem Atemzuge die große Wahrheit kündet: Der Mensch ist ein Ebenbild, ein Abbild Gottes. In der Genesis heißt es: »Dann sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen als unser Ebenbild, uns ähnlich. Herrschen soll er über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über alles Wild des Feldes und über alles Gewürm, das am Boden kriecht! So schuf Gott den Menschen als sein Abbild. Als Gottes Abbild schuf er ihn.«

Es fällt uns nicht schwer, aus dieser unmittelbaren Wiederholung das beglückende Staunen der Heiligen Schrift über [die] Größe und Würde des Menschen, die an Größe und Würde Gottes gemessen werden soll, herauszuhören. Der ewige Gott ist frei, er ist ein persönlicher Gott, kein unbestimmtes Etwas, kein Fatum; also ist auch sein Abbild als »freie« Persönlichkeit von seinem Urbilde gedacht und geschaffen. Seine Aufgabe besteht darin, alles in sich, auch seine »Freiheit« wie der »freie« Gott auf den freien Gott hin auszurichten.

Irenäus hat das klassische Wort geprägt: »Homo augmentum ad Deum«, d.h.: Der Mensch ist das Wesen, das sich im Wachstum auf Gott hin verwirklicht. Je mehr er deswegen in die Freiheit Gottes hineinwächst, je mehr er zur wahren Freiheit der Kinder Gottes ausreift, je mehr [auch] die menschliche Gesellschaft eine vollkommene Gemeinschaft wird, die sich aufbaut auf dem Grunde vollkommener Persönlichkeiten, und je mehr beide getragen sind nicht nur von den Gesetzen der Wahrheit und des Rechtes, sondern auch von der elementaren Grundkraft der Liebe, desto vollendeter sind Mensch und Gesellschaft. Das ist eine Wirklichkeit, die wir heute weithin vergessen haben. Möge die Zeit bald kommen, wo das Evangelium vom christlichen Menschenbild die Herzen der Völker wiederum [er]wärmt und eint und künftiger Geschichte die Wege zeigt.“[2]

Pater Kentenich durfte noch erleben, wie das Hitler-Regime zusammenbrach und die menschenverachtende und zerstörerische Ideologie in der Selbstzerstörung Hitlers einen gewissen Schlusspunkt fand. Nach dem Krieg sorgten christliche Politiker wie Schumann in Frankreich oder Adenauer in Deutschland, dass auf dem Boden des christlichen Menschenbildes neue Verfassungen entwickelt wurden und durch den Jugendaustausch alte Feindbilder überwunden wurden. 60 Jahre Frieden in Europa ist auch die Frucht dieser politischen Weichenstellungen in der Nachkriegsära. Leider müssen wir aber feststellen, dass im privaten und wirtschaftlichen Bereich und erst recht in den Medien die Ehrfurcht längst nicht mehr diesen Stellenwert hat, den Pater Kentenich ihm zugemessen hat. Und so stellt sich uns neu die Herausforderung, ein Klima der Ehrfurcht aufzubauen. Wenn das kostbare Vater-Symbol am 6.4. nach Dachau kommt, dann möchte diese Feier uns einstimmen und motivieren, überall, wo wir Einfluss haben, ein Klima der Ehrfurcht aufzubauen.


[1] A.Schweitzer, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, hier zit.n.Kentenich, Marianische Werkzeugsfrömmigkeit, Vallendar-Schönstatt 1974, S.125f.
[2] Kentenich, Marianische Werkzeugsfrömmigkeit, S. 159f.

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