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21. Juni 2013 | Positionen | 

Die Kita als Gouvernante


Die Kita als Gouvernante (Foto: Rhein-Zeitung)

Michael Defrancesco, www.rhein-zeitung.de. Im August 2013 kommt der Rechtsanspruch auf einen Kinderkrippenplatz für alle Kinder unter drei Jahren. Die Politik will damit Müttern den raschen Wiedereinstieg in ihr Berufsleben ermöglichen. Aber was bedeutet das für die Kinder?

Zwei Seiten einer Medaille

Das ist die Vorderseite der Medaille: Kitakinder lernen mehr und haben einen besseren Start in der Grundschule, Mütter machen kürzere Babypausen und stehen dem Arbeitsmarkt rascher als qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung, die Betreuungsangebote für Dreijährige und unter Dreijährige werden immer flexibler und besser – das sind zumindest die Ergebnisse des aktuellen Bildungsberichts der Kultusministerkonferenz.

Rhein-Zeitung - Journal vom 8. Juni 2013 (Abbildung: Rhein-Zeitung)

Rhein-Zeitung - Journal vom 8. Juni 2013 (Abbildung: Rhein-Zeitung)

Das ist die Rückseite der Medaille: Wohlhabende Eltern benutzen die Kita als Gouvernante, verwirklichen sich selbst und parken ihre Kleinkinder in der Kita, während sie in den Urlaub fliegen – das sind Berichte von Erziehern und Sozialpädagogen, die so gar nicht ins Bild der modernen Form der Kinderbetreuung passen wollen.

Persönliche Karriere vor Familienglück und Wohl des Kindes

„Ich habe diese Erfahrung wieder und wieder gemacht: Vor allen Dingen Eltern aus der gehobenen Mittelschicht lagern ihre Erziehung gern komplett in die Kita aus“, sagt die Leiterin einer Kindertagesstätte, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Diese Eltern setzen ihre persönliche Karriere und ihren Wohlstand ganz klar vor das Familienglück und das Wohl der Kinder.“ Es ginge in diesem Fall nicht darum, dass die Eltern mit der Erziehung der Kinder überfordert seien. Es ginge auch nicht darum, dass sie dringend Geld verdienen müssten, um das Überleben der Familie zu sichern. „Nein, vor allen Dingen akademisch hoch stehende Eltern haben da ganz klare Vorstellungen: Die Kita ist das Kindermädchen, das ihnen die gesamte Erziehungsarbeit abnehmen soll.“

Wohlstandsverwahrlosung

Wohlstandsverwahrlosung heißt das Wort, das in Kinderseelen nach Meinung von Erziehungspsychologen genauso viel Schaden anrichtet wie die Armutsverwahrlosung. Dabei ist es laut der Erfahrung der Erzieher gar nicht unbedingt so, dass beide Elternteile arbeiten. „Da ist die Mutter daheim, der Vater ist Topverdiener – aber beide Elternteile leben ihr eigenes Leben, in dem das Kind keinen Platz hat.“

Albert Wunsch (Foto: Privataufnahme, Wikipedia)

Albert Wunsch (Foto: Privataufnahme, Wikipedia)

Albert Wunsch ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Düsseldorf. „Es fehlt in diesen Familien nicht an Geld, sondern an einer emotionalen Bindung zum Kind“, sagt er. „Diese Eltern möchten die Erziehung komplett auslagern.“

Eine Schulsozialarbeiterin kennt diese Fälle nur zur Genüge. „Wir bieten während der Sommerferien diverse Kinderferienspiele an. Und wir erleben es immer wieder, dass Kinder während der kompletten Zeit bei all diesen Aktionen angemeldet werden.“ Das bedeutet: Ein gemeinsamer Urlaub mit den Eltern ist nicht drin. „Wir haben schon mehrfach darüber diskutiert, wie wir damit umgehen, wenn Kinder wegverwahrt werden sollen“, sagt sie. „Aber wir hätten ja auch keine offizielle Begründung gehabt, warum wir das Kind nur an der Hälfte der Ferienspiele teilnehmen lassen.“

Besonders bitter ist es für die Erzieher, wenn sie hören, dass die Eltern in der Zwischenzeit nicht hart gearbeitet haben, sondern selbst in Urlaub geflogen sind. Wenn die Kita schloss, kümmerten sich Oma und Opa um das Kind. „Da fühlen wir uns ziemlich ausgenutzt“, sagt die Kitaleiterin, „vor allen Dingen, weil diese Eltern unterschätzen, wie wichtig es ist, dass die Kinder auch Familienzeit erleben. Urlaub mit den Eltern ist Bildungsraum – vorausgesetzt, die Kinder werden im Urlaub nicht nur im Kinderklub des Hotels geparkt.“ Albert Wunsch ergänzt: „Jede Beziehung, auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind, wird geprägt durch das, was man miteinander unternimmt.“

Bildungsbericht:

83 Prozent der unter Einjährigen sowie 62 Prozent der einjährigen Kinder wurden 2009 nach Angaben ihrer Eltern zehn Stunden und mehr am Tag von ihrer Mutter betreut (Quelle: Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz). Im Alter von zwei Jahren sinkt dieser Anteil auf 48 Prozent, bei Dreijährigen auf 20 Prozent.

Gesetz:

Nach dem Kinderförderungsgesetz besteht bundesweit ab 1. August ein Rechtsanspruch für alle unter Dreijährigen auf einen Krippenplatz. Angestrebt wird eine Betreuungsquote von 35 Prozent. Dieses Ziel wird von vielen Kommunen als utopisch angesehen, es gäbe weder genügend Geld noch ausreichend Erzieher. Das Familienministerium sieht das nicht so. Nach jüngsten Umfragen ist die Nachfrage fast doppelt so groß und liegt bei 66 Prozent.

Eltern die eigene Verantwortung zeigen

Manchmal wissen es die Eltern auch einfach nicht besser. „Wir haben schon einige Gespräche geführt und Mütter und Väter damit vertraut gemacht, dass sie die Profis in Sachen Kind sind, dass die Kindererziehung in erster Linie ihre Aufgabe ist“, sagt die Kitaleiterin. Die Schulsozialarbeiterin ergänzt: „Nur die Eltern können das Kind wirklich begeistern, emotional mitreißen und ihm Werte und Dinge vermitteln, die ihnen selbst wichtig sind.“ Aber nicht immer fallen die Worte der Erzieher auf fruchtbaren Boden.

Ein Erzieher erinnert sich im Gespräch an einen Vater, der wütend in die Kita gestürmt kam, weil der kleine Sohn zu Hause „Unarten“ an den Tag gelegt hatte. „Der Mann machte mir schlimme Vorwürfe und verlangte allen Ernstes von mir, dass ich seinen Sohn besser erziehen solle“, sagt der Erzieher kopfschüttelnd. „Manchmal müssen wir den Eltern wirklich zeigen, wo ihre eigene Verantwortung bei ihren Kindern ist.“

Familiäre Sozialisation ist zentral wichtig für die Bildungsbiographie

Dies greift auch der Bildungsbericht auf: „Die Familie spielt als primäre Sozialisationsinstanz und als Ort der Bildung eine zentrale Rolle für den Verlauf der Bildungsbiografie“, schreiben die Forscher. Dies treffe in besonderer Weise auf die frühe Kindheit zu. „In der Familie finden – überwiegend alltagsintegriert und spielerisch – auch unterschiedliche Bildungsprozesse statt, die langfristig die Bildungsmotivation und -chancen der Kinder erheblich beeinflussen. Zugleich wird über die Familie der Zugang zu frühkindlichen Bildungsangeboten in zentraler Weise gelenkt.“

Wenn der Bildungsbericht der Kultusministerkonferenz die großartige Bildung in einer Kita lobt, können manche Erzieher nur mit dem Kopf schütteln. „Kinder sind nur dann wirklich ausgeglichene Persönlichkeiten, wenn sie auch ein gesundes Familienleben erleben“, ist sich die Kitaleiterin sicher. „Ohne die Geborgenheit in der Familie fehlt ihnen das Urvertrauen, und sie können ganz schwer ihr Selbstbewusstsein aufbauen.“

Parkhaus Kita für Latte- Macchiato-Eltern

Doch wann sollen die Kinder Familienleben erleben? „Wir machen morgens um 7 Uhr auf und schließen um 16 Uhr – und viele Kinder sind die gesamte Zeitspanne bei uns, fünf Tage die Woche. Überlegen Sie sich das einmal: Ein dreijähriges Kind ist so lange weg von zu Hause wie ein erwachsener Arbeitnehmer!“ Erziehungswissenschaftler Albert Wunsch spricht in diesem Fall von der Kita als Parkhaus für das Kind.

Natürlich, so räumen die Erzieher im Gespräch ein, seien manche Eltern aufgrund ihrer Arbeitgeber unflexibel und auf diese langen Öffnungszeiten angewiesen. „Aber es gibt genügend Fälle, in denen die langen Öffnungszeiten ausgenutzt werden, weil es für die Eltern bequemer ist, noch einige Zeit ohne das Kind zu sein und in Ruhe shoppen oder ins Café gehen zu können.“ Das Wort von den Latte- Macchiato-Eltern umschreibt dieses Phänomen.

Kinderrecht auf Erziehung durch Eltern

Dr. Helmut Müller (Foto: Uni Koblenz)

Dr. Helmut Müller (Foto: Uni Koblenz)

Helmut Müller ist Akademischer Direktor des Instituts für Katholische Theologie an der Uni Koblenz-Landau. Er spricht analog zum politisch unterstützten Elternrecht auf Krippenbetreuung lieber von einem Kinderrecht auf Erziehung durch Eltern: „Wie mag es einem Einjährigen zumute sein, der gerade Mama und Papa sagen kann, wenn ihn Mama oder Papa vielleicht für den ganzen Tag fremden Leuten in Obhut gibt? Die sind gar nicht das, was die Kleinen gerade sagen können, nämlich Mama und Papa. ,Professionell betreuende Fachkraft' kann das Kind noch nicht sagen.“

Kinderbetreuung ist keine Kindererziehung

Müller und Wunsch sind sich einig: Kinderbetreuung und Kindererziehung sind etwas völlig Unterschiedliches. Und erziehen, so sagen sie, können nur Eltern. Die Schulsozialarbeiterin hat ebenfalls beobachtet, dass Kinder, die Vater und Mutter wirklich erleben, eine höhere soziale Kompetenz haben, dass ihr Ausdrucksvermögen besser ist und dass sie sensibler sind. Kinder hingegen, die ihren Alltag in einer Kindertagesstätte verbringen, seien offener und könnten sofort auf andere Menschen zugehen. „Das ist ihre Überlebensstrategie: Sie müssen funktionieren, sie müssen auf wildfremde Menschen zugehen, da sie die meiste Zeit ohne ihre Eltern verbringen.“ Das Problem: Diese Kinder seien oft zu vertrauensselig und nicht vorsichtig fremden Menschen gegenüber. „Kinder, die eine enge Bindung an ihre Eltern haben, sind da viel stabiler.“

Für Albert Wunsch kann die Kita nur eine Notlösung sein. „Als Jugendliche werden die abgegebenen Kinder weniger Achtung vor ihren Eltern empfinden. Und ihr Wertesystem wird nach einem Zufallsprinzip entstanden sein. Denn viel zu viele Menschen haben daran herumgewerkelt.“

Quelle: Rhein-Zeitung, www.rhein-zeitung.de

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