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23. Juli 2012 | Deutschland | 

Herbststürme 1912 - Ein Buch zur Pädagogik Pater Josef Kentenichs


Ein Buch über die Pädagogik Pater Josef Kentenichs (Cover: Schönstatt-Verlag)

Ein Buch über die Pädagogik Pater Josef Kentenichs (Cover: Schönstatt-Verlag)

Hbre. Im Jahr 2012 sind es genau 100 Jahre, dass der Gründer Schönstatts, Pater Josef Kentenich, seine Vorstellungen von Pädagogik in einem Antrittsvortrag als Spiritual erstmals formuliert hat. Von Anfang an wird deutlich, dass sein pädagogischer Ansatz Anstöße geben möchte zu einer Revolution im Innern, im eigenen Selbst. Das Wertvollste, was es auf Erden gibt, den Menschen, und zwar jeden Einzelnen, zu fördern und das Beste in ihm zu entfalten, das war Kentenichs Leidenschaft, für die er – aus „Liebe zu Gott und den Seelen“ – alles investierte, so kann man lesen auf dem Klappentext von „Herbststürme 1912“, dem neuen Buch von Schwester M. Doria Schlickmann, das im Schönstattverlag erschienen ist. In einem Gespräch mit der Autorin wird deutlich, dass die pädagogischen Ansätze, die Pater Kentenich bereits 1912 aufzeigt und praktiziert, weit über den historischen Rahmen hinausgehen und von bleibender Aktualität sind. Ein Buch, das Impulse für jeden gibt, der innerlich jung bleiben und seine Persönlichkeit zur Ausreifung bringen möchte.

Schwester M. Doria Schlickmann (Foto: Brehm)

Schwester M. Doria Schlickmann (Foto: Brehm)

schoenstatt.de: Schwester Doria, Sie haben im Schönstatt Verlag ein neues Buch herausgebracht unter dem spannenden Titel „Herbststürme 1912". Worum geht es in diesem Buch?

Schwester Doria: Nun, es geht eigentlich um die erste pädagogische Tätigkeit Pater Kentenichs, natürlich im Kontext seiner Gesamtpädagogik. Ich habe es „Skizze zur Pädagogik Pater Kentenichs" genannt, aber es ist eigentlich schon ein bisschen mehr, weil es auch über die Zeit hinaus greift.

schoenstatt.de: Im Untertitel steht die provozierende Formulierung „Eine Revolution im Inneren beginnt“. Um welche Revolution geht es da?

Schwester Doria: Ja, das ist zunächst doppeldeutig, weil ja tatsächlich in dem Studienheim, im Internat, wo Pater Kentenich pädagogisch wirksam wurde, eine Revolution im Gange war. Primär ist aber die Revolution im eigenen Inneren gemeint, also eine Veränderung des Menschen von innen her. Viele Politiker der damaligen Zeit waren darauf konzentriert, Zustandsreformen zu bringen, äußere Veränderungen. Pater Kentenichs Ansatz der gesellschaftlichen Veränderung setzt im Inneren des Menschen an. Allerdings war der Ausgangspunkt die Revolution der Jungen gegen die bestehende Ordnung im Studienheim, die sie als zu streng und als zu autoritär empfunden haben. Dagegen haben sie revoltiert. Das passierte in einer Gesellschaft, in der zunächst eine rigide Erziehung stattfand und eine rigide Führung, wo auch autoritäre Staatsformen noch ganz gängig waren, wo aber unter der Decke schon einiges brodelte an Aufbrüchen zur Freiheit hin: Man denke an die Frauenbewegung, oder an noch unter der Decke brodelnde politische Bestrebungen z.B. bei den Sozialdemokraten. In der Zeit lag schon ein bestimmtes Freiheitsbedürfnis und dieses Freiheitsbedürfnis hatten die Jungen im Internat auch. Pater Kentenich erkannte in dem, was er Seelenstimmen nannte - in dem, was in den Jungen vorging - etwas, was insgesamt in der Zeit lag und was nach einem neuen Umgang mit den Menschen verlangte und deshalb auch eine neue Art der Erziehung.

schoenstatt.de: Wenn Sie in wenigen Sätzen beschreiben sollten, was denn das Neue an dieser Erziehung war, an der Pädagogik, die Pater Kentenich praktiziert und entwickelt hat, …

Schwester Doria: Primär sicherlich, dass er das Erziehungsobjekt zum Erziehungssubjekt macht. Dass er also die Jungen als Persönlichkeiten behandelt, um sie zu Persönlichkeiten zu erziehen. Er behandelt sie mündig, um mündige Menschen, verantwortungsfähige Priester zu formen.

Neu war auch seine Pädagogik selbst: Im Umfeld sowohl des Internats als auch der kirchlichen und staatlichen, schulischen Erziehung oder Pädagogik, wie sie allgemein gehandhabt wurde, war sein pädagogisches Handeln nicht dadurch geprägt, dass er die Jungen durch Regeln, durch Strafen, durch Kontrolle geführt hat, sondern dass er sie angeregt und motiviert hat, sich selbst zu erziehen. Er hat damit die Eigenständigkeit provoziert. Ihm ging es um das selbstständige Denken. Er wollte vor allen Dingen im Inneren der Jungen - und das ist wichtig - etwas in Gang setzen, sodass die Eigenkräfte auf ein Ideal hinwirkten und nicht Fremdeinflüsse.

schoenstatt.de: Im Klappentext des Buches wird die Relevanz des pädagogischen Ansatzes von Pater Kentenich aus dem Jahr 1912 für heute postuliert. Inwiefern denken Sie, dass diese Pädagogik für die heutige Zeit von Interesse ist?

(Cover: Schönstatt-Verlag)

(Cover: Schönstatt-Verlag)

Schwester Doria: Also, wenn wir das mit heute vergleichen, sind natürlich die äußeren Verhältnisse gegenüber 1912 wesentlich verändert. Wir leben durchweg in einer Gesellschaft, die sehr viele Freiheiten ermöglicht. Das fängt an bei der freien Auswahl von Waren und geht hin bis zur Partnerwahl, zur Berufswahl, der Meinungsfreiheit, der Bewegungsfreiheit, wir könnten das endlos fortsetzen. Freiheiten, die man zum damaligen Zeitpunkt in diesem Ausmaß überhaupt nicht kannte. Das ist mehr das Äußere. Was aber gleich geblieben ist, ist die Frage, inwiefern der einzelne Mensch sich von innen her selbst steuern kann. Inwieweit ist er innerlich frei. Das ist gleich geblieben. Die heutige Zeit stellt andere Anforderungen. So wird sehr viel Wert darauf gelegt, dass wir in dieser komplexen, pluralen Gesellschaft mit ungeheuer viel Medieneinfluss "funktionieren".

Und hier liegt eine Relevanz für heute: In dieser komplexen, immer pluraler werdenden Umwelt, die so beherrscht scheint von äußeren Faktoren, da legt Kentenichpädagogik Gewicht darauf, dass der Einzelne in seinem Inneren sich entfalten kann, dass die Innen-Kräfte zur Entfaltung kommen. Hier geht es um die moralische Kompetenz des Menschen, seine religiösen Ambitionen, seine selbstständigen Entscheidungen gegenüber starken äußeren Faktoren, starken Außenkräften, die durch die Medien viel stärker geworden sind als früher.

In seinem ersten Vortrag im Oktober 1912 spricht Pater Kentenich von der Kluft zwischen der äußeren Entwicklung der Welt, dem Makrokosmos, und der inneren Entwicklung des Menschen, dem Mikrokosmos. Um die Überwindung dieser Kluft geht es auch heute: Kann die innere Entwicklung des Menschen, seines Charakters, seiner Persönlichkeit Schritt halten mit der Außenentwicklung, die stattfindet? Wir verfügen heute über ungeheuer viele Möglichkeiten, aber sind wir auch moralisch reif genug, mit diesen Möglichkeiten umzugehen? In unserer Vergangenheit haben wir Beispiele dafür, wohin es führen kann, wenn diese Kluft zu groß wird. Von daher ist es nötig danach zu fragen, wie wir den Menschen befähigen, in dieser modernen Zeit zurechtzukommen und gleichzeitig verantwortlich zu sein, verantwortliche Persönlichkeit, die auch Werte hochhält.

Schwester M. Doria Schlickmann (Foto: Brehm)

(Foto: Brehm)

schoenstatt.de: Gibt es da im Buch Hinweise, aus denen man sehen kann, wie Pater Kentenich das damals erzieherisch gemacht hat und die man eventuell auch auf heute übertragen kann?

Schwester Doria: Ein Beispiel ist sicher der Erziehungsvorgang selbst. Es ist ja nicht so, dass Pater Kentenich quasi von oben her die Jungen erzieht. Es ist vielmehr so, dass er die Jungen in den Erziehungsvorgang einbezieht, sie in den pädagogischen Dialog einführt. Ein zweites Beispiel ist vielleicht die Betonung des Persönlichkeitskerns, des persönlichen Ideals, wie wir in Schönstatt schon mal sagen oder der originellen Person. Gerade hier kann man sehen, dass er auch im persönlichen Gespräch sehr stark mit den Jungen daran arbeitet, diese ganz subjektive persönliche Wertschätzung der eigenen Persönlichkeit an sich selbst wirklich zu erfahren.

schoenstatt.de: Für heute bedeutet das also, wenn man jungen Menschen vermittelt, diese eigene Identität zu entdecken und zu entfalten, dann sind sie eher in der Lage, mit dieser diffusen Welt zurechtzukommen?

Schwester Doria: Ja, auf diesen Selbststand kommt es heute an. Im Schlussteil des Buches komme ich ja kurz auf die Problematik zu sprechen, dass die Gefahr, sich selbst zu verlieren, heute sehr stark ist. Funke schreibt in seinem Buch „Der entgrenzte Mensch“, dass die grenzenlose Freiheit den Verlust des eigenen Selbst in sich schließen kann. Und diese Problematik hat Pater Kentenich schon sehr früh vorausgesehen.

schoenstatt.de: Schwester Doria, Sie müssen eine Fülle an Material und Quellen gesichtet haben, um dieses Buch schreiben zu können. Was war daran besonders spannend?

Schwester Doria: Spannend waren eigentlich vor allem Quellentexte von Leuten, die später eher in Distanz zu Pater Kentenich gegangen sind, die ihn in ihrem Zeugnis über diese Zeit aber als Erzieher positiv beschreiben. Spannend war vor allem auch zu klären, wie die Situation damals wirklich war. Das Buch trägt ja den Titel „Herbststürme 1912“, eine Aussage von Pater Kentenich selbst, die man zunächst als etwas überzeichnet empfinden könnte. Als ich in einem Zeugnis aber lesen konnte, wie die Situation im Studienheim damals tatsächlich war, dass z.B. der gesamte Oberkurs geschlossen die Anstalt verlassen wollte und den Rektor vor ein Ultimatum gestellt hatte, da wurde mir erst klar, wie heiß und riskant die Situation war, in die Pater Kentenich praktisch ohne jede pädagogische Vorbildung als Spiritual hineingestellt wurde.

Faszinierend fand ich auch zu sehen, wie verschiedene Personen, die auch später unterschiedlich über ihn denken, in verschiedenen Aussagen über Pater Kentenich inhaltlich übereinstimmen. Das heißt, er muss als Persönlichkeit, als Erzieherpersönlichkeit eine enorme Ausstrahlung gehabt haben.

schoenstatt.de: Sie haben zunächst ein Buch über die Kindheit und Jugendzeit Pater Kentenichs geschrieben und jetzt ein Buch über Pater Kentenich in der Vorgründungszeit der Schönstattbewegung. Was hat sie veranlasst, diese Thematik anzugehen, und gibt es vielleicht Pläne, noch nachzulegen?

Schwester M. Doria Schlickmann (Foto: BrehmM

Schwester M. Doria Schlickmann (Foto: Brehm)

Vor der Buchhandlung des Schönstatt-Verlages (Foto: Brehm)

Vor der Buchhandlung des Schönstatt-Verlages (Foto: Brehm)

Schwester Doria: Zunächst habe ich ja schon meine Doktorarbeit, „Die Idee von der wahren Freiheit“, über die Pädagogik Pater Kentenichs geschrieben. Ab und zu wurde ich gefragt, ob ich nicht ein Buch zu dieser Thematik schreiben könnte, das Mütter oder Väter „auf der Bettkante“ lesen können. So hoffe ich, dass das neue Buch diesem Anliegen dient. Ich möchte allerdings auch auf den Zusammenhang hinweisen, den ich sehe zwischen dem Buch über die frühe Lebensgeschichte Pater Kentenichs und seiner Pädagogik, die daraus erwachsen ist, die jetzt Gegenstand des neuen Buches ist. In meiner Abteilung an der Universität Münster gab es damals im Sinne der Bildungsgangforschung die spannende Frage: Wie kommt man zu einer alternativen Pädagogik, was ist biographisch vorausgegangen. Deshalb schließt sich - abgesehen davon, dass wir 2012 haben und 100 Jahre vorüber sind – an das Buch über die frühe Kindheit die Fragestellung an: Was kommt jetzt, was erwächst aus dieser Lebensgeschichte. Und da hatte ich eigentlich ein Buch geplant über die Gründungsgeschichte Schönstatts, über den Weg auf den 18. Oktober 1914 hin. Dieses Buch wird auch kommen unter dem Titel: „Entscheidende Jahre“. Die Pädagogik Pater Kentenichs war darin als ein wesentlicher Baustein geplant, der allerdings so umfangreich wurde, dass ich das als eigenständiges Buch jetzt schon veröffentlicht habe.

schoenstatt.de: Das heißt, der Leser kann sich auf eine spannende Fortsetzung freuen. Vielen Dank, Schwester Doria, für dieses Gespräch, mit dem Sie sicher dem einen oder anderen Leser Geschmack am Buch „Herbststürme 1912“ gemacht haben.

Zur Pädagogik Schönstatts 1912 - 2012

Herbststürme 1912
Eine Revolution im Innern beginnt ...
248 Seiten, kartoniert, 14,8 x 21 cm, ISBN 978-3-935396-35-6, € 13,50

Zu beziehen bei:
Schönstatt-Verlag, Hillscheider Str. 1, 56179 Vallendar, Tel. 0261/ 64 04-300, Fax -309,
e-mail: schoenstatt-verlag@s-ms.org
Internet: www.schoenstatt-verlag.de
oder in jeder Buchhandlung.

Zur Autorin

Dorothea M. Schlickmann (Schwester M. Doria), 1956 in Neuss a. Rh. geboren, trat 1978 in das Säkularinstitut der Schönstätter Marienschwestern ein. Sie studierte Deutsch, Geschichte und Erziehungswissenschaften und promovierte an der philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einer Arbeit zur Pädagogik Pater Josef Kentenichs („Die Idee von der wahren Freiheit“, Schönstatt-Verlag Vallendar 2007, 3. Auflage). Seit 1999 arbeitet sie im Bereich biographischer Forschungen und Dokumentationen über Pater J. Kentenich und als Bildungsreferentin sowie in der internen Aus- und Weiterbildung ihrer Gemeinschaft. Mitglied des IKF (Internationales Josef Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e. V.) ist sie seit 2004.


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