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23. Dezember 2015 | Kirche | 

Flüchtlingsthematik: „Gott wird dort Mensch, wo die politischen und existentiellen Krisen am sichtbarsten sind“


Weihbischof Dr. Michael Gerber (Archivbild: Brehm)

Weihbischof Dr. Michael Gerber (Archivbild: Brehm)

Hbre. „Die Weihnachtsbotschaft, für unsere heutige Situation auf den Punkt gebracht, lautet: Gott wird dort Mensch, wo die politischen und existentiellen Krisen am sichtbarsten sind“, das sagte der Freiburger Weihbischof Dr. Michael Gerber in einem Interview mit „Der Sonntag im Dreiland“ vom 20. Dezember 2015. Die Geschichte Jesu sei ganz nahe an dem, was viele Menschen heute erlebten. Schon als Kind in der Krippe sei sein Leben in Gefahr und seine erste Reise sei eine Flucht gewesen. Von der Art und Weise, wie Papst Franziskus sein Amt führe, fühle er sich aufgefordert, sich „den Menschen zuzuwenden, die in Krisen leben“, so Gerber.

Eine besondere und eine universale Verantwortung

Aus verschiedenen Gründen unterstütze die katholische Kirche die Flüchtlingspolitik Deutschlands, auch wenn diese in vielen europäischen Ländern als politischer Fehler kritisiert werde. Gerber wörtlich: „Dabei sind für mich zwei Argumente entscheidend. Das eine: Aus der deutschen Geschichte heraus haben wir eine besondere Verantwortung. Denn während des NS-Regimes haben aus Deutschland flüchtende Menschen vielerorts Zuflucht gefunden, und nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Flüchtlinge zum Aufbau der Bundesrepublik beigetragen. Das andere: Als Christen haben wir eine universale Verantwortung, die über die eigene Familie, den eigenen Stamm und das eigene Volk hinausgeht. Wir sind verpflichtet, das Gesamte im Blick zu behalten und somit Menschen zu helfen, die unverschuldet in Not geraten sind.“ Konkret habe das Erzbistum Freiburg bisher Wohnraum für mehr als 1.000 Flüchtlinge in kirchlichen Häusern zur Verfügung gestellt. Außerdem engagiere sich die Erzdiözese in der Begleitung und Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern, „damit sie einen langen Atem bewahren, Frustrationen sowie die Schwierigkeiten, die sich aus kulturellen Unterschieden ergeben, aushalten“ können.

Gerber: „Die Weihnachtsbotschaft, für unsere heutige Situation auf den Punkt gebracht, lautet: Gott wird dort Mensch, wo die politischen und existentiellen Krisen am sichtbarsten sind.“ (Archivbild: Brehm)

Gerber: „Die Weihnachtsbotschaft, für unsere heutige Situation auf den Punkt gebracht, lautet: Gott wird dort Mensch, wo die politischen und existentiellen Krisen am sichtbarsten sind.“ (Archivbild: Brehm)

Mit Vehemenz unterstreicht Weihbischof Dr. Michael Gerber, dass es bei der Frage nach der Integration der vielen Flüchtlinge immer um konkrete Menschen, um individuelle Persönlichkeiten mit ihrer jeweiligen Geschichte gehen müsse. Da gäbe es zum Beispiel den syrischen Studenten, der in Deutschland einen Hochschulabschluss anstrebe. Und gleichzeitig gäbe es geflüchtete Frauen aus Bergregionen, die nie in ihrem Leben hätten zur Schule gehen können und nun Deutsch lernen sollen. Da gäbe es junge Menschen, die miterlebt hätten, wie ihre Eltern getötet worden seien. Andere aus der syrischen Mittelschicht seien denselben Lebensstandard wie in Deutschland gewohnt. „Die Flüchtlinge gibt es für mich nicht. Sondern wir haben es mit Menschen zu tun.“

Aufgeklärte Kräfte des Islams stärken

Der Freiburger Weihbischof sieht im Blick auf die Integration der vielen Menschen, deren Wertvorstellungen vom Islam geprägt worden sind und die derzeit als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, eine wichtige Aufgabe von Christen darin, Erfahrungen jahrhundertelanger Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche vermittelnd einzubringen. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil habe die katholische Kirche reflektiert, dass es ihrem Wesen entspreche, ihre Werte auf dem Boden einer Verfassung zu leben, welche die freiheitliche und demokratische Grundordnung garantiere. Gerber: „So gesehen kann das Christentum mit seiner Erfahrung in Richtung Islam vermitteln und daran mitarbeiten, dass die aufgeklärten Kräfte des Islam gestärkt werden. Es würde letztlich nicht genügen, wenn die Akzeptanz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch eine Religionsgemeinschaft nur Ergebnis eines Kompromisses wäre, eine Art Zugeständnis an die Eigenheiten eines bestimmten westlichen Kulturkreises. Nein, wir dürfen selbstbewusst sagen, hier geht es um Werte, die alle Menschen betreffen.“ Die Religionsgemeinschaften müssten im Kern ihrer Botschaft einen wesentlichen Ansatzpunkt zu finden, von dem aus sie die freiheitlich-demokratische Grundordnung mittragen.

Christen hätten aber nicht nur eine Aufgabe in der Vermittlung zwischen säkularen und religiösen Idealen. Die Kirchen müssten auch „in die andere Richtung“ vermitteln und um Verständnis dafür werben, dass Religion nicht nur eine schlichte Privatsache sei. „Wir haben ja in den zurückliegenden Jahrzehnten weithin geglaubt, dass die Zahl derer, für welche Religion eine Bedeutung hat, in unserer Gesellschaft immer kleiner wird. Jetzt stellen wir fest, dass dies nicht so einfach stimmt, sondern es ein existentielles Bedürfnis gibt, seinen Glauben auch öffentlich zu leben.“

Mehr Informationen

  • Das Interview mit Weihbischof Dr. Michael Gerber im Wortlaut (Der Sonntag, Ausgabe vom 20.12.2015, S. 4, PDF, ca. 10 MB)
  • Weihbischof Dr. Michael Gerber studierte in Freiburg und Rom Theologie. Er wurde 1997 zum Priester geweiht, war Leiter des Freiburger Priesterseminars und ist Mitglied im Schönstatt-Institut Diözesanpriester. Am 8. September 2013 empfing er die Bischofsweihe.


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