Der Kulturkampf um den „Vater“

Ohne Zweifel stellt das Buch von Alexander Mitscherlich „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, das 1963 in erster Auflage in München erschien, die Signatur eines langen gesellschaftlichen Prozesses dar, der in der Mitte der 1960er Jahren einen Höhepunkt erreichte. Die Autorität der Vatergestalten in den privaten und öffentlichen Bereichen verbrauchte sich zusehends. Es wurde eine neue Zeit für die Legitimierung von Autorität und das Zusammenspiel der Geschlechter eingeläutet.

Exkurs 1: Wie kam es dazu?

Kirche im Wandel

Die Kirche war und ist in diesen Wandlungsprozess hineingenommen. Sie war und ist sozusagen gekennzeichnet durch eine Vaterstruktur. Mit dem Titel Vater verbindet sich dabei eine große Machtfülle, die sich auf die ihm jeweils anvertrauten Menschen bezieht: für den „Heiligen Vater“ die Weltkirche, für die Bischöfe die Ortskirchen (bei Weihehandlungen wird der Bischof mit „ehrwürdiger Vater“ angesprochen), für den Pfarrer die Pfarrei. Wie sehr dieser Grundsatz nach wie vor gilt und zugleich in Zweifel gezogen wird, zeigen die jüngsten Auseinandersetzungen im Rahmen der pastoralen und synodalen Prozesse.

Folgender Vorgang, der genau in die Zeit der Auseinandersetzungen Pater Kentenichs mit der Kirche fällt, zeigt, welche Prägung das kirchliche Bild vom Vater hatte, in diesem Fall vom Vater in der Familie. 1953 erzwang das Bundesverfassungsgericht, die Rechtsfigur des männlichen Familienoberhauptes abzuschaffen. Die deutschen Bischöfe reagierten mit Protest, weil sie die von Gott vorgegebene Seinsordnung untergraben sahen.

Exkurs 2: Gleichberechtigung von Mann und Frau

Pater Kentenich und die Entwicklung des Vaterbildes

Interessant ist nun, dass die persönliche Entwicklung Josef Kentenichs als Kind, das ohne Vater aufwachsen musste, als Student, als Priester und Gründer der schönstättischen Gemeinschaften parallel verlief zu der angedeuteten gesellschaftlichen Entwicklung des Vaterbildes.

Mit großer Sensibilität nahm Pater Kentenich diese Entwicklungen bis zu seinem Tod 1968 auf. Er tat dies gemäß seinem gläubigen Grundsatz, dass Gott in Krisen auf bestimmte Werte im Sinne der Zeichen der Zeit besonders aufmerksam machen möchte. Konkret bedeutet das: Parallel zum Abbau des traditionellen Vaterbildes versuchte er, ein neues Vaterbild aufzubauen, das bestimmend sein sollte, sowohl für die von ihm gegründeten Schönstatt-Gemeinschaften wie auch für Familien und für die Kirche.

Pater Kentenich war zunächst in Bezug auf die Familien von alt hergebrachten Vorstellungen geleitet. Er verstand den Vater in der Familie als die Gestalt und Institution, auf die alles im Sinne einer Letztverantwortung zulaufe. Er hatte also ebenfalls die Vorstellung eines hierarchischen Bildes von Ehe und Familie. Erst ab den 1950er Jahren sah er das Bild einer partnerschaftlichen Ehe an Einfluss gewinnen. Er war für diese Entwicklung offen und empfahl abzuwarten, welches Bild sich schließlich durchsetze.

Vaterschaft: liebende und sorgende Begleitung

Genau diese Empfehlung jedoch macht deutlich, dass die Grundkategorie des Vaterbildes für Pater Kentenich nicht zuerst die äußere Struktur war, sondern die liebende und sorgende Begleitung und die dadurch entstehende „natürliche Autorität“ des Vaters. Den absoluten Primat hatte für ihn die Liebe.

Diese Wachsamkeit Pater Kentenichs für weitere Entwicklungen allgemein und die Entwicklung des Familien-, Vater- und Mutterbildes im Besonderen macht deutlich, dass er die Vorstellung vertrat, sich auf neue Prozesse der Wandlung einzulassen. In einem anderen Zusammenhang vertrat er im Blick auf die Fähigkeit der Bewegung, gesellschaftliche und kirchliche Prozesse wahrzunehmen und aus dem Glauben zu deuten, die Ansicht:

„Was einer allein früher tat, das müssen Sie nachher als Team tun. Dass man also fragt: Welche Strömungen sind jetzt da? Wenn Sie das nicht können oder nicht tun, dann haben Sie übermorgen eine Holzgesellschaft oder eine steinerne Gesellschaft.“ (1964)

„Es mag auch als selbstverständlich gebucht werden, dass eine Erneuerungsbewegung des bezeichneten Ausmaßes mitten hineingeworfen werden muss in alle geistigen Zeitströmungen in Welt und Kirche. Sie muss gerüttelt und geschüttelt werden, sie muss sich mit ihnen auseinandersetzen, muss an ihnen wachsen, muss Wertvolles in sich aufnehmen und Bedenkliches überwinden und abstreifen.“ (1952)

Verkündigung dieses Bildes in Wort und Tat

Dieses Bild des Vaters versuchte Pater Kentenich auf verschiedene Weise in die Schönstatt-Bewegung einzupflanzen. Die erste Weise war, wie er sich selbst für Einzelne und für die einzelnen Gemeinschaften als väterlicher Begleiter zur Verfügung stellte. Ziel war für ihn, Menschen und Gemeinschaften zu inspirieren, nicht etwa gemäß einem hierarchischen Strukturmodell die Oberhand über die verschiedenen Lebensabläufe zu behalten. Sein Grundsatz „Freiheit so viel wie möglich, Bindung so viel wie nötig, Geistpflege so viel wie irgendwie möglich“ setzte weniger auf Gehorsam gegenüber einer Vaterfigur, sondern auf Inspiration und Freiheit.

Aufgrund der für ihn so offensichtlichen Notwendigkeit eines liebenden Vaters für alle Lebensgemeinschaften wollte er, dass sich seine Gemeinschaften als Familien verstehen. Die gelungene “Naturfamilie” war das Vorbild für die liebende Zuwendung der Mitglieder zueinander. Die Betonung eines neuen Vaterbildes sollte aber nicht im Sinne eines Vorranges des Vaters gegenüber der Mutter verstanden werden. Den Müttern wurden schon immer eher die Eigenschaften der liebenden und barmherzigen Zuwendung und Wertschätzung zugesprochen. Diesbezüglich gab es im Blick auf die Väter ein deutliches Defizit und eine Überlagerung durch autoritäres Verhalten. Pater Kentenich sah hier dringenden Entwicklungsbedarf.

Das Vaterbild offen für Transparenz

Eine entscheidende Aufgabe der Gestalt des Vaters in den verschiedenen Ausformungen war für Pater Kentenich dessen Transparenzcharakter. Ein Vater sollte immer als einer verstanden werden, der auf Gott als den liebenden Vater der Menschen hinweist. Mit dieser Aufgabe, Vater zu sein, sah er keineswegs einen Macht- oder Verfügungsanspruch verbunden, wie es in der Tradition oft der Fall war. Viel mehr ging es ihm um eine innere Autorität, die Orientierung geben und auch zu eigenen Entscheidungen und persönlichen Wachstumsvorgängen herausfordern könnte. Alle, die väterliche Aufgaben übernahmen, sollen Gott als liebenden Vater repräsentieren. Und das galt für Vateraufgaben in den Familien, in „familienhaften“ Gemeinschaften, aber auch für die Gemeinden, Ortskirchen und die Gesamtkirche, die sich als „familia Dei“ verstehen sollten.

Vater zu sein in den verschiedenen Lebensgemeinschaften war somit für Pater Kentenich kein Herrschaftsinstrument, sondern eine wichtige Möglichkeit, die Menschen zu einem von Liebe und Freiheit geprägten Verhältnis zu Gott zu führen. Das macht die Menschen fähig, authentisch „Vater unser im Himmel“ zu sagen.

Weiterentwicklung des Vaterbildes

Man muss davon ausgehen, dass eine Neugestaltung des Autoritäts- und Vaterbildes in Gesellschaft und Kirche noch lange dauern wird. Es zeigen sich erste Konturen. So wird man das Bild des Mannes als Vater nur in der wechselseitigen Beziehung zum Bild der Frau als Mutter formulieren können. Bei einer jeweiligen Profilierung beider Bilder geht es dann weniger um Abgrenzungen, sondern um Konvergenzen. Ist es in diesem Zusammenhang zum Beispiel nicht ein beachtenswerter Vorgang, dass politische Parteien ihre Spitzen mit einer Frau und einem Mann gemeinsam zu besetzen versuchen? Deutet sich hier wie in anderen Vorgängen vielleicht eine kulturgeschichtliche Spur an, die in Gesellschaft und Kirche ernst genommen werden will? Es wird eine echte Herausforderung sein, die Zeichen der Zeit wahr- und anzunehmen und sie aus dem Glauben an Gottes Führung zu deuten.  

Beiträge zu einem umfassenderen Bild in der Causa Kentenich

In Kooperation verschiedener Personen aus der Schönstatt-Bewegung werden im Auftrag des Generalpräsidiums des internationalen Schönstattwerkes Themen bearbeitet, die Pater Josef Kentenich, den Gründer der Bewegung, betreffen und die derzeit angefragt sind. Dies geschieht aufgrund des jeweiligen aktuellen Kenntnisstandes, der sich aus den zugänglichen Dokumenten und Schriften ergibt. Die Ergebnisse der Forschungen und Gespräche sind jeweils in themenbezogenen Artikeln zu lesen. Ihre Vorschläge für Themen weiterer Artikel können Sie gerne senden an: mk@schoenstatt.de.

PressOffice Schoenstatt International

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