Kindesexamen – Ein Aufreger mit vielen Missverständnissen

Seit Mitte 2020 geistert ein Wort durch kirchliche Medien, das zu einem echten Aufreger wurde. Ein interner, geistlicher Vorgang, der bei der Gemeinschaft der Schönstätter Marienschwestern in besonderen Situationen mit Pater Kentenich vorkam, wurde ans Licht gezerrt. Dies geschah allerdings ohne die rechte Einfühlung in die Zusammenhänge. Eine rein formale Betrachtungsweise des sogenannten Kindesexamens führte zu willkürlichen Interpretationen, die Pater Kentenich in der Öffentlichkeit als unwürdigen und selbstgerechten Übervater bloßstellen sollten.

Um was geht es eigentlich?

In der Gemeinschaft der Marienschwestern bildete sich eine originelle Form heraus, das Kindsein vor Gott auszudrücken. Pater Kentenich hatte das pädagogische und spirituelle Anliegen, dass sich der Mensch ganzheitlich gesund entwickeln möge. Aufgrund vielfältiger Begleitungen entwickelte sich bei ihm die Erkenntnis, dass dies nur dann wirklich gelingen kann, wenn der Mensch sich als Kind vor Gott geborgen erlebt.

Psychologisch steht hinter dieser Wahrnehmung, dass jedem Menschen Grundbedürfnisse angeboren sind, etwa nach Anerkennung, Verlässlichkeit, Schutz sowie die Sehnsucht, zu anderen zu gehören, für sie wichtig zu sein und von ihnen wertgeschätzt zu werden. Diese Grundbedürfnisse werden im günstigen Fall zunächst von den Eltern befriedigt, dann auch von weiteren Bezugspersonen und in selbstgewählten Beziehungen. Die Brüchigkeit menschlicher Beziehungen führt dann jedoch zu der Erkenntnis, dass eine letzte, unverbrüchliche Geborgenheit nur in Gott gelingen kann, so ein gläubiges Verständnis jener Grundbedürfnisse.

Das Kindesexamen wurde zur Möglichkeit, das Kindsein vor Gott geistlich einzuüben. Dabei geht es um vier Kernfragen, die damals P. Kentenich, heute nur durch die Generaloberin oder den letztverantwortlichen Priester der Gemeinschaft gestellt werden darf.

Was mit den vier Kernfragen gemeint ist:

  • Wem gehört das Kind? Die Antwort: Dem Vater.
    – Damit ist die in der Liebe tiefe Erfahrung ausgedrückt, dass ich dem, den ich liebe, auch gehören will.
  • Darauf zielt auch die zweite Frage: Was darf der Vater mit dem Kind tun? Die Antwort: Alles.
    – Auch das sagt nur, wer sich ohne Furcht in Liebe getragen weiß.
  • Die dritte Frage: Was ist der Vater für sein Kind? Die Antwort: Alles.
    – Hier ist zur Versicherung danach gefragt, ob es wirklich Gott ist, der an erster Stelle geliebt wird.
  • Die vierte Frage: Was ist das Kind für den Vater? Die Antwort: Sein kleines Nichts und deswegen sein Alles.
    – Diese Frage und diese Antwort sind nur verständlich, wenn ein Mensch seine Verfasstheit an der Größe Gottes misst. Dagegen ist er gleichsam „ein Nichts“. Das aber meint nicht mangelnde Wertschätzung des Menschen von Seiten Gottes oder die Einschätzung, dass der Mensch an sich nichts sei. Es betont vielmehr des Menschen Größe gerade im Kleinsein (vgl. Psalm 8: „Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst…“). Obwohl der Mensch gemessen an Gott nur das anbieten kann, was er als Geschöpf ist, ist er vor Gott ganz groß und geliebt: „sein Alles“.

Hingabe an Gott

In diesem Ritual, das ganz in der Freiwilligkeit der Einzelnen lag und nur von einzelnen Schwestern vor und mit dem Gründer geübt wurde, geht es also um eine Vertiefung der Gottesbeziehung. Mit Vater ist Gott als Vater gemeint, der Vater Jesu Christi und der Vater aller Menschen. Das, was in der Spiritualität Schönstatts mit „Blankovollmacht“ und „Inscriptio“ gemeint ist, der bewussten Ausrichtung auf den Willen Gottes, wird in diesem Vorgang personalisiert auf Gott als Vater.

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, bedingungslosem Vertrauen und zugleich die Erfahrung eigener Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit werden in diesem Ritual auf den Punkt gebracht und vertrauensvoll in die Hände Gottes gelegt. Das geschieht in dem Glauben, dass sich Gott gerade der Kleinheit und Unzulänglichkeit des Menschen voll Liebe erbarmt.

In diesem sehr persönlichen Vorgang bedarf es einer entsprechenden Person, die sozusagen im Namen Gottes die Fragen ausspricht. Hier kommt der Fragende als leibhaftige Person ins Spiel, gleichsam als stellvertretender Vater. Natürlich kann und wird der Dialog auch im persönlichen Gebet stattfinden. Die „Vermittlung“ durch eine anwesende Person kann aber das persönliche Erleben verstärken.

Erfahrungen

Solche Rituale im Frage-Antwort-Modus sind uns im Laufe einer christlichen Sozialisation und eines Kirchenjahres vertraut. Schon bei der Taufe werden Eltern und Paten, stellvertretend für den Täufling, in dieser Form nach dem Glauben gefragt. Das Kind oder entsprechend der Erwachsene bei einer Erwachsenentaufe soll als Kind Gottes in die Gemeinschaft der Glaubenden aufgenommen werden. Dieses Ritual wiederholt sich während der Erstkommunionfeier, bei der Firmung und in abgewandelter Form als Befragung bei der Priesterweihe und der Eheschließung. In jeder Osternacht werden katholische Christen in diesem Frage-Antwort-Modus nach ihrem Glauben gefragt.

Naheliegend ist der Vergleich zu der Befragung des Petrus in Joh 21,15 ff., den P. Kentenich selbst immer wieder heranzieht. Dreimal fragt Jesus den Petrus, ob er ihn liebe. In dreimal sich steigerndem Ton beteuert Petrus die Liebe zu seinem Herrn, worauf Jesus ihm den Auftrag zum „Weiden seiner Lämmer“ erteilt. Wie in dieser Perikope soll das Kindesexamen den Menschen dadurch zu seiner Berufung befreien, ihm wachsen helfen, dass er sich ganz in die Liebe Gottes hineingibt.

Interpretationen

Beachtet man diesen „organischen“ Zusammenhang zwischen Gott als dem Vater und dem irdischen Platzhalter nicht, kann es zwangsläufig zu krassen Fehlinterpretationen und Missverständnissen des Kindesexamens kommen. Dessen reine formale Betrachtung kann dann diesen Vorgang beispielsweise als Unterdrückungsmethode eines manipulierenden oder anmaßenden Menschen interpretieren. Solche Fehlsicht geschah beispielsweise während der Visitation durch Pater Tromp. Eine ähnlich verkürzende, nicht verstehende Reaktion liegt nun erneut in entsprechenden Veröffentlichungen.

Nun könnte man zu Recht fragen, ob solches Vorgehen vielleicht dazu angetan sei, gerade aus heutiger Sicht diese Missverständnisse zu provozieren. Besteht nicht zu sehr die Gefahr, dass einzelne Betroffene, die ein solches Ritual vollziehen, mit dessen Inhalt oder Form nicht zurechtkommen? Könnte nicht der Fragende selbst die Bereitschaft der Befragten falsch einschätzen und sie überfordern?

Hier tut sich ein Problem auf, dass sich grundsätzlich durch die Gebrochenheit der Beziehung zwischen Mensch und Gott ergibt. Als Beispiel diene der Begriff des Vaters grundsätzlich, der ja im Mittelpunkt des Kindesexamens steht.

Die Assoziationen mit dem Begriff Vater bilden sich in einem Menschen individuell aufgrund der Vater-Erfahrungen in der Kindheit. Die entstehenden Konnotationen zum Begriff entstehen durch die konkret erlebte Vaterfigur, werden durch sie festgelegt und sind nur schwer revidierbar. Im Zentralgebet des christlichen Glaubens schlechthin, dem Vaterunser, wird unwillkürlich das individuelle gewachsene Begriffskonzept auf Gott übertragen. Hat ein Mensch einen liebenden leiblichen Vater erlebt, wird es ihm nicht schwerfallen, einen positiven Zugang zu Gott als Vater zu finden. Hat der Mensch dagegen einen schwierigen oder gar keinen Vater erlebt, werden auch noch so ambitionierte religionspädagogische Konzepte diesen Menschen kaum von Gott als liebendem Vater überzeugen können. Im Blick auf das Grundgebet des Christentums stellt sich folglich die Frage, ob wegen des möglichen Missverständnisses am besten das Vaterunser abgeschafft oder umformuliert werden sollte. Zugespitzt könnte man fragen: Ist die rituelle Aufforderung des Priesters in der Eucharistiefeier, das Vaterunser zu beten, ein institutionalisiertes Machtinstrument, um die Gemeinde aufzufordern, sich zu einem kollektiven Infantilismus zu bekennen?

Dieses Beispiel zeigt, wie stark eine entsprechend gelenkte Perspektive einen gutgläubig vollzogenen liturgischen Akt oder einen Lebensvorgang wie das Kindesexamen zu interpretieren vermag und äußerst suspekt erscheinen lässt.

Hinweis:

Weitere Überlegungen zum Kindesexamen finden sich in dem Artikel „Das Ewige im Menschen – es ist die Kindlichkeit.“ In: Heft 1 „Regnum. Schönstatt International – Reflexion und Dialog“ 2021, (7,50 €), das über diese Adresse bestellt werden kann: bestellen@patris-verlag.de

 

Beiträge zu einem umfassenderen Bild in der Causa Kentenich

In Kooperation verschiedener Personen aus der Schönstatt-Bewegung werden im Auftrag des Generalpräsidiums des internationalen Schönstattwerkes Themen bearbeitet, die Pater Josef Kentenich, den Gründer der Bewegung, betreffen und die derzeit angefragt sind. Dies geschieht aufgrund des jeweiligen aktuellen Kenntnisstandes, der sich aus den zugänglichen Dokumenten und Schriften ergibt. Die Ergebnisse der Forschungen und Gespräche sind jeweils in themenbezogenen Artikeln zu lesen. Ihre Vorschläge für Themen weiterer Artikel können Sie gerne senden an: mk@schoenstatt.de.

PressOffice Schoenstatt International

Zurück


Top