Nachrichten
Ein fundamentaltheologischer Blick auf die kulturbildende Kraft des Christlichen
Prof. Dr. Ulrich Engel. Gründungsbeauftragter des Campus für Theologie und Spiritualität CTS, Berlin, spricht über "die kulturbildende Kraft des Christlichen aus fundamentaltheologischer Sicht" (Foto: Brehm)
Sr. M. Nurit Stosiek. Zum Programm des Kongresses „Sinn stiften! Die kulturbildende Kraft des Christlichen“ gehören auch Dialogforen, die Möglichkeit für die Teilnehmenden in kleineren Gruppen mit Leuchtturmprojekten für „best practice“, wie Professor Dr. Joachim Söder sie ankündigte – ins Gespräch zu kommen. Themen waren „Zum neuesten Stand der Causa Kentenich“, „Die Stiftung Katholischer Schulen – ein Beitrag zur christlichen Weltgestaltung“ und „Der katholische akademische Auslandsdienst und sein Nahostprogramm. Ein interkultureller Brückenschlag. Anschließend referierte Professor Dr. Ulrich Engel OP (Dominikaner) über die kulturbildende Kraft des Christlichen aus fundamentaltheologischer Sicht. Engel ist Direktor des Dominikanischen Forschungszentrum Marie-Dominique Chenu in Berlin und Gründungsbeauftragter des Campus für Theologie und Spiritualität Berlin (CTS Berlin).
Das „Mega-Thema“, wie der Referent es nannte, ging er in drei Schritten an. Da die Fundamentaltheologie in engem Austausch mit der Philosophie stehe, als erster Schritt:
Eine kurze Skizze zur kulturbildenden Kraft des Christentums in Europa
Während in Antike und Mittelalter der Kulturbegriff seinen Schwerpunkt auf Erde, Geist und dem Heiligen hatte, wandelte sich in der Renaissance die Cultura-Idee fatalerweise zu einem Gegenbegriff zum Natürlichen. Die Kultur wurde im Vergleich zur Natur als höhere Existenzform gesehen. Der Kultur würde seitdem ein sittliches, ein ästhetisches und ein geschichtliches Moment zugeschrieben. Die Aufklärung schließlich sehe Kultur gleichbedeutend mit universalem Fortschritt. Die Gegenbewegung sei eine kulturkritische Sicht mancher Denker ab dem 19. Jahrhundert, die in der Naturschutzbewegung bis hin zu den heute aktuellen Forderungen nach Klimagerechtigkeit, Energiedemokratie, einer sozialökologischen Gesellschaftstransformation oder einem de- bzw. postkolonialen Ökofeminismus weiterwirke.
Das gemeinschaftsbildende Verständnis sei auch bei den meisten Religionen grundlegend. Im Christentum werde dies vor allem greifbar durch die Trinität als Einheit in Vielheit und die Inkarnation „als Inkulturation Gottes in die Gegebenheiten des Menschen und seiner Welt(en)“. Die paulinische Verkündigung überführe das ursprünglich vorderorientalisch-jüdisch geprägte Christentum in die hellenistische Kultur. Es gewinne durch „die räumliche (äußere) wie die inhaltliche (innere) Expansion eine starke kulturbildende Relevanz, die zum Beispiel greifbar würde in den Kathedralen und Klöstern mit den entsprechenden Spiritualitäten, dem spannungsreichen Staats-Kirchen-Verhältnis, der Wirkgeschichte des Menschenwürdegedankens und den daraus abgeleiteten Menschenrechten, die sich wesentlich dem christlichen Menschenbild verdankten.
Nach einer kurzen Schilderung der Komplexität des Kulturbegriffs kam der Theorieansatz des Kultur- und Kommunikationswissenschaftlers Jürgen Bolten zur Darstellung, mit dem Pater Engel arbeitet.
Der Kulturbegriff bei Jürgen Bolten (Foto: Brehm)
Jürgen Bolten (1955–2023) und sein integraler Kulturbegriff
Boltens Kulturtheorie nehme unterschiedliche Aspekte des Kulturbegriffs in den Blick, unter dem Begriff des colonus (Bauer, Kolonist) das Hegen, Pflegen, Bewahren und Schützen (colere); die agricultura, durch die ein Stück Land zum fruchtbaren Acker gestaltet und so Zukunft sichergestellt werde; die cultura animi, die das Geistige pflege und entfalte; die cultura corporis et animi, die der leib-seelischen Ganzheit Rechnung trage; und schließlich die cultura Dei, die auf die der Kultur eigenen Transzendenz verweise.
Dieser Kulturbegriff „ist holistisch, ganzheitlich, weil ‚Kultur‘ als Netzwerk verstanden wird, in dem sowohl natürliche Umwelt- als auch Selbst-, imaginative und soziale Reziprozitätsdynamiken als sich wechselseitig beeinflussend gedacht werden.“ (Bolten)
Im dritten Schritt bringt der Referent ein illustrierendes Beispiel:
Die kulturbildende Kraft des Christlichen am Beispiel der bildenden Kunst: Ein Gang durch den Pavillon des Heiligen Stuhls auf der 60. „Biennale di Venezia“ 2024
Der Heilige Stuhl beteiligt sich in diesem Jahr zum dritten Mal an der „Biennale“ mit dem Thema „With my Eyes“. Als Ort wurde ein Frauengefängnis auf der venezianischen Insel Giudecca gewählt, das bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein Benediktinerinnenkloster war. Der Referent stellte einige ausgewählte Stationen des Rundgangs vor unter der Perspektive der kulturbildenden Kraft des Christlichen.
Da ist zum Beispiel eine großflächige Wandmalerei von Maurizio Cattelan (* 1960) auf der öffentlich einsehbaren Außenfront der ehemaligen Klosterkapelle. Sie trägt den Titel „Father“ und zeigt eine schwarz-weiß gemalte Untersicht zweier Füße; der Rest des Körpers ist nicht zu sehen. Die ungewöhnliche Perspektive erinnert an die Darstellung „Toter Christus“ von Andrea Mantegna (um 1475–1485), der den Leichnam Jesu von den Fußsohlen her darstellt. Cattelan erklärt: „Die Füße werden zur Abstraktion des toten Körpers, zu dem sie gehören. Und da sie sich gegen oben richten, sind sie weniger Teil einer Grablegung, sondern werden zu einer Auferstehung.“
Pater Engel sieht dieses Wandbild als Beispiel für die Kraft der Auferstehungshoffnung, die über Jahrhunderte die christliche Kunst und darüber hinaus unsere Kultur als Ganze geprägt habe, gerade angesichts ungerechter und oft tödlicher Verhältnisse.
„Cattelan hat anlässlich der Biennale zusammen mit inhaftierten Frauen und anderen eine Ausgabe der vatikanischen Straßenzeitung „L’Osservatore di Strada“ mitgestaltet. Verkauft werden die Zeitungen von vielen, deren Füße rissig, schorfig und verletzt, wie die auf Cattelans Wandbild aussehen“, so der Referent.
Eine andere Station im Inneren des Gefängnisses zeigt Arbeiten der französischen, in Los Angeles, CA, lebenden Künstlerin Claire Tabouret (* 1981). Von ihr werden Bilder von Kindern der gefangenen Frauen gezeigt, Portraits ihrer jüngeren Geschwister, Selbstbildnisse der inhaftierten Frauen aus besseren Tagen in jungen Jahren. Jede dieser Darstellungen erinnert an die Würde, die Identität und die Schönheit der Menschen, die dort porträtiert sind. Hier würde die jüdisch-christliche Idee der Gottebenbildlichkeit gefeiert, die der Kultur eine tiefe Humanität eingeschrieben habe.
update:theologie - das Programmheft des Campus für Theologie und Spiritualität (Foto: Brehm) DOWNLOAD
Fazit in vier Thesen
Pater Engel fasste die Aspekte, die sich vor allem aus dem Durchgang durch die vatikanische Biennale ergaben, in vier Thesen zusammen: Die kulturbildende Kraft des Christlichen gründet in der jüdisch-christlichen Idee der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen. Sein Wert hängt nicht von seinen Leistungen und Fehlern ab. Weiter gründe die kulturbildende Kraft des Christlichen im Geheimnis der Inkarnation, insofern sich in ihr Menschliches und Göttliches miteinander verschränken und eine christliche Mitgestaltung auch säkularer Gegebenheiten möglich macht. Die kulturbildende Kraft des Christlichen gründe auch in der Praxis jesuanischer Gemeinschaftsbildung: Zugehörigkeit und Teilhabe gelten uneingeschränkt allen Menschen, bevorzugt den Schwachen und Armen, so die dritte These. Und die vierte These: Die kulturbildende Kraft des Christlichen gründet in der Auferstehungshoffnung, insofern diese eine kontrafaktische Rettung aus zutiefst ungerechten Verhältnissen für alle – einschließlich der Opfer der Geschichte – aufrichtig mit einkalkuliert.
Ein Hinweis, der zu denken gibt: Kunst, die von nicht christlichen Künstlern produziert worden ist, kann interessanter Weise hinweisen auf die kulturbildenden Kräfte des Christentums. Aus dem Außen kann der Glaube etwas über sich lernen.
Campus für Theologie und Spiritualität - CTS
- Internetseite: www.cts-berlin.org
- Download: update:theologie (Studienprogramm der CTS)