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Norbert Nichell: Mit liebenden Augen sehen
(Foto: Pexels, pixabay)
Kommentar der Woche:
Mit liebenden Augen sehen
Norbert Nichell | Mainz (Foto: basis-online.net)
Norbert Nichell
Mit liebenden Augen sehen
24.07.2024
„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht…, und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts“ (1 Kor 13, 1-2)
Diese Worte kamen mir in den Sinn, als ich vor einiger Zeit einen Patienten (61) besuchte, der mir unter Tränen von der Liebe erzählte, die er in seiner Kindheit durch seine Mutter erleben durfte.
„Es war eine wunderschöne Kindheit, meine Mutter war für mich da – und durch sie habe ich eine Liebe erleben dürfen, die ganz besonders ist. Sie hat mich so auch in die Liebe zu Jesus und seiner Mutter Maria mit hineingenommen. Diese beiden bedeuten mir so viel.“
Auf seinen Wunsch hin, habe ich ihm ein (Schönstatt-) Marienbild (aus dem Nachlass meiner im letzten Oktober verstorbenen Mutter) mitgebracht und sage ihm: „Vielleicht entdecken Sie in dem Jesuskind auf dem Bild auch Ihre innige Beziehung zu Ihrer Mutter – und ihrer Beziehung zu Jesus und seiner Mutter…“
Auf diese meine Antwort hin und der Geste, dass ich dieses Bild von meiner Mutter zu ihm weitergebe, kommen ihm erneut die Tränen vor Rührung… – und ich ahne (noch mehr), wie sehr dieser Mann von dieser Kraft der Liebe lebt, die sein unvergänglicher „Schatz“ – bis heute – geblieben ist und von dem er ein klein wenig „zurückgeben wollte“, indem er 8 Jahre lang seine Mutter – bis zu ihrem Tod vor 2 Jahren – gepflegt hat… Jetzt hat sie ihm – auf andere Weise – auch geholfen, seit seiner Lebertransplantation im Dezember immer wieder die Zeiten mit Lungenentzündungen und auf Intensivstation zu überstehen…
„Es wäre für mich auch in Ordnung gewesen, zu den Menschen zu gehen, die ich liebe, aber anscheinend war in den Augen Gottes die Zeit dafür noch nicht gekommen“, sagt er mir, ebenfalls unter Tränen – und ich spüre die Kraft der Liebe, die für ihn von Jesus und Maria ausgehen.
Am Ende unseres Gesprächs frage ich ihn, ob ich ihn umarmen dürfe – und er freut sich über diese Geste, die unterstreicht, was wir miteinander gerade erleben und teilen durften: Mit den „Augen der Liebe“ angeschaut zu werden und mit dem Herzen zu sehen…
In den verbliebenen Wochen seines Stationsaufenthaltes begleitete ihn der mehrfache tägliche Blick auf das Marienbild, das ich unter der großen Uhr in seinem Zimmer vis-a-vis von seinem Bett aufgehängt hatte (ein Schraubendübel ohne bisherige Verwendung war bereits vorhanden und passte vorzüglich) – und das ihn seit dem Verlassen der Klinik auch weiterhin begleitet…
Wenn ich auf unserer Kinderintensivstation die Liebe der Eltern sehe, mit der sie sich um das bedrohte Leben ihres Kindes sorgen, werde ich selbst dankbar und fühle mich mit-getragen. Eine Situation werde ich in meiner Tätigkeit wohl nicht mehr vergessen: bei einem Jugendlichen, der aufgrund seiner Vorerkrankung auf der Straße ins Koma gefallen war und nach dessen verzögerter Reanimation die Werte immer mehr abrutschten, kam ich – selbst erschüttert – auf dem Weg von den verzweifelten Eltern zu unserer Klinikkapelle mit Gott ins Gespräch und bat ihn: „Wenn Du es willst, lass ein Wunder geschehen, Herr, wenn es irgendeine Möglichkeit gibt…“
Noch am selben Abend erwachte der Jugendliche aus dem 3-tägigen Koma, ohne Schädigungen des Gehirns – und erzählte mir: „Die Ärzte haben mir gesagt: es war ein Wunder!“ Die Kraft der Liebe und des Glaubens, die unerklärlich bleibt und wunder-voll wirkt zwischen Himmel und Erde…
Mit dem Psalm des heutigen Tages kann ich hinsichtlich der Erfahrungen dieser beiden Patienten dankbar beten:
„Bei dir, o HERR, habe ich mich geborgen…
Reiß mich heraus und rette mich in deiner Gerechtigkeit!
Neige dein Ohr mir zu und hilf mir!
Sei mir ein schützender Fels, zu dem ich allzeit kommen darf!
Du hast geboten, mich zu retten, denn du bist mein Fels und meine Festung.
Du bist meine Hoffnung, Herr und GOTT, meine Zuversicht von Jugend auf.
Vom Mutterleib an habe ich mich auf dich gestützt,
aus dem Schoß meiner Mutter hast du mich entbunden, dir gilt mein Lobpreis allezeit.
Mein Mund soll von deiner Gerechtigkeit künden,
den ganzen Tag von deinen rettenden Taten, denn ich kann sie nicht zählen.
Gott, du hast mich gelehrt von Jugend auf
und bis heute verkünde ich deine Wunder“(Ps 71, 1-3.5-6.15.17)
Norbert Nichell
kath. Klinikseelsorger an der Universitätsmedizin Mainz