Nachrichten

23. März 2022 | Kommentar der Woche | 

Michael Maas - … hätte eine Sternstunde werden können.


Reichstag Berlin (Foto: Hubertus Brantzen)

Reichstag Berlin (Foto: Hubertus Brantzen)

Kommentar der Woche:

… hätte eine Sternstunde werden können

Michael Maas | Staufen (Foto: privat)

Michael Maas | Staufen (Foto: privat)

 

 

 

Michael Maas

… hätte eine Sternstunde werden können.

23.03.2022

Der vergangene Donnerstag hätte eine Sternstunde des Bundestags werden können. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war in einer Live-Schaltung mitten aus dem umkämpften Kiew zugeschaltet und sprach zu den Abgeordneten und der Regierung. Ein außergewöhnlicher Vorgang.
Zugleich auch ein dramatisches Ereignis. Aufgrund eines aktuellen Bombenangriffs des russischen Militärs in der Nähe seines Aufenthaltsortes konnte er erst eine Viertelstunde später das Wort ergreifen. Allein das ist schon bemerkenswert genug. Mit welcher Kraft und Hingabe Selenskyj trotz aller Widrigkeiten Stand hält und dadurch sein Volk aufrichtet. Das verdient höchsten Respekt.

Leider hat er diesen Respekt nicht erhalten. Die Abgeordneten erhoben sich zwar brav, um ihm zu applaudieren. Doch sein flammender Appell an das deutsche Volk und namentlich an Bundeskanzler Scholz verhallte ungehört. Nach seinem Hilferuf trug die Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt Geburtstagsgrüße vor und schließlich stand ja die Diskussion um eine mögliche Impfpflicht gegen Corona auf der Tagesordnung. Da war nichts zu machen.

Ich habe mich für dieses arrogante Vorgehen geschämt. Der Anstand hätte geboten, ihm auf seine (An)fragen zu antworten. Darüber hinaus hätte sich auch gelohnt, über seine Worte auch inhaltlich, gerne auch kontrovers, ins Gespräch zu kommen.

Immerhin: An anderer Stelle ist das im Nachgang teilweise geschehen. Eines ging meiner Wahrnehmung nach dabei etwas unter. Selenskyj meinte mit Blick auf unser Land: „Euch Deutschen geht es immer nur um Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“ Deshalb habe man nicht sehen wollen, welche Auswirkungen z.B. die Energieverträge mit Russland hatten. Hauptsache, der Rubel rollt.

So pauschal ist dieses Urteil natürlich unfair. Wer mag das Selesnkyj in seiner Lage verdenken? Natürlich gilt: Wir alle haben weder Nordstream 1 noch Nordstream 2 gebaut. Wir entscheiden nicht, woher das Getreide für unser Brot kommt usw.

Und doch ist es auch nicht ganz falsch, denn wir haben vieles auch nicht wissen wollen. Solange der Preis stimmt, fragen wir lieber nicht so genau nach. Woher unsere Kleider kommen und unter welchen Bedingungen sie genäht werden? Woher unser Strom kommt und in welche Abhängigkeiten wir uns dadurch begeben? Wer auf unseren Großbaustellen arbeitet, wer unsere Früchte von den Feldern holt oder in unseren Schlachthöfen tätig ist? Und wie dort die Arbeits- und Lebensbedingungen sind? Etc.
Schon Corona oder der Klimawandel hatten es aufgezeigt, der jetzige Krieg in der Ukraine noch einmal verschärft: Unser Wohlstand fußt auf manchen problematischen Voraussetzungen.

Das zu ändern ist gar nicht einfach. Ich merke es an mir selbst. An so viele Annehmlichkeiten habe ich mich gewöhnt. Ich kann und will sie nicht einfach aufgeben. Und doch stellt sich die Frage nach der Umkehr. Dem ersten, vielleicht nur kleinen, Schritt, dem weitere folgen. Irgendwie passend zur Fastenzeit.
Eines ist mir dabei noch wichtig. Als Christen sind wir nicht kollektiv, sondern einzeln zur Umkehr gerufen. Deshalb gilt es für jeden und jede, persönlich zu schauen, wo wir uns zu ändern haben. Denn schnell geht der Blick wieder auf die Verantwortlichen. Sie sollen es richten. Ich will die Hoffnung nicht sinken lassen, dass wir alle dazu in der Lage sind, uns zu ändern. Und dass so auch die Freiheit des Einzelnen geschätzt wird.

Michael Maas, Staufen


Quelle: www.basis-online.de
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung


Top