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21. März 2022 | Deutschland | 

Bindungsforschung und Bindungsorganismus


Während der Tagung waren die Delegierten eingeladen auf einer Art "Schriftrolle" an der Rückwand des Veranstaltungsraumes wichtige Stationen auf dem zurückliegenden Weg der Bewegung und Ideen für die Zukunft schriftlich festzuhalten (Foto: Brehm)

Während der Tagung waren die Delegierten eingeladen auf einer Art "Schriftrolle" an der Rückwand des Veranstaltungsraumes wichtige Stationen auf dem zurückliegenden Weges der Bewegung und Ideen für die Zukunft schriftlich festzuhalten (Foto: Brehm)

CBre/Hbre. Am Nachmittag des zweiten Arbeitstages der Delegiertentagung der Schönstatt-Bewegung Deutschland stand das Thema Bindung im Fokus des Programms. Prof. Alexander Trost, Aachen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und langjähriger Professor in den Studiengängen Heilpädagogik, Kindheitspädagogik und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW sprach über „Aktuelle Impulse aus der Bindungsforschung“. Pater Ludwig Güthlein Isch, Schönstatt-Bewegung Deutschland, Vallendar, sprach zum Thema „Bindungsorganismus und Bündniskultur – innerer Kompass und charismatische Provokation“.

Prof. Alexander Trost, Aachen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und langjähriger Professor in den Studiengängen Heilpädagogik, Kindheitspädagogik und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW spricht über „Aktuelle Impulse aus der Bindungsforschung“. (Foto: Brehm)

Prof. Alexander Trost, Aachen, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und langjähriger Professor in den Studiengängen Heilpädagogik, Kindheitspädagogik und Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule NRW spricht über „Aktuelle Impulse aus der Bindungsforschung“. (Foto: Brehm)

Aktuelle Impulse aus der Bindungsforschung

Er ist der führende Bindungsforscher Deutschlands und darüber hinaus. Zum zweiten Mal nach dem vom Josef-Kentenich-Institut in Zusammenarbeit mit der Katholischen Hochschule NRW (katho) und dem Campus für Theologie und Spiritualität Berlin (CTS) in Schönstatt veranstalteten Kongress „Bildung wozu“ im Oktober 2021 sprach Professor Dr. Alexander Trost im Pater-Kentenich-Haus in Schönstatt, Vallendar, über die Wichtigkeit der frühkindlichen Bindungen für die Ermöglichung eines erfüllten, gelingenden Lebens. Er ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass Bindung für die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns von entscheidender Bedeutung ist. Ohne Bindung wenigstens an eine zentrale Bindungsperson keine Bildung, so sein Postulat.

Damit Menschen gut mit sich und anderen in Kontakt sein, Affekte und Stress regulieren, lern- und arbeitsfähig, beziehungs- und kooperationsfähig werden könnten, brauche es als Grundvoraussetzung gesunde Bindungen. Prof. Trost betonte, dass Kinder bereits im Mutterleib z.B. mit den Stresshormonen der Mutter konfrontiert werden würden, was bereits in diesem frühen Zustand die Entwicklung der Gehirnstrukturen des Kindes beeinflussen könne.

Optimal sei es für ein Kind, wenn es im ersten Jahr die Bindung an eine Bindungsperson entwickeln dürfe. Das sei eine „sichere Basis“, denn in diesem Zeitraum sei das Fenster für eine sichere Bindung weit offen. Das Bindungssystem aktiviere sich bei Angst und Trennung. Durch die Nähe der Bindungsperson werde es wieder gesichert. Betreuungspersonen brauchten Feinfühligkeit, die Signale des Kindes wahrzunehmen, richtig zu interpretieren sowie angemessen und prompt darauf zu reagieren. Gäbe es zwei oder mehr Bindungspersonen, entscheide sich das Kind für die Person, die feinfühliger sei und seine Signale besser verstehe.

Zwei wesentliche Fähigkeiten für Bindungspersonen seien Resonanz und Spiegeln, durch die die Selbstregulation des Kindes, die mit der Geburt beginne, gefördert werden könne. Kinder hätten zu Beginn ihres Lebens ein Körperselbst. Sie könnten ihre Affekte nur körperlich ausdrücken durch Weinen, Lachen, Schreien, Stöhnen. Dies führe zu Resonanz in der Bindungsperson, wodurch im Kind Beruhigung entstehe und es mit der Zeit lerne, auf diesem Weg seine Affekte einzuordnen und deuten zu können. Es entwickle Sensibilität für seinen Selbstzustand, was die Voraussetzung darstelle, sich später in andere hineinversetzen zu können und deren Gefühle zu deuten.

Dass ein Kind zu einem Menschen mit gelingender Selbstorganisation, Selbststeuerung und Sinngenerierung werde, sei eng verbunden mit der Bindungsentwicklung in der frühen Kindheit. Habe ein Säugling eine sichere Basis, von der aus er die Umwelt erkunden und begreifen könne und in Zeiten von Stress um diesen sicheren Hafen wisse, sei er in der Lage, mit der fremden Welt zurechtzukommen.

Professor Trost wies auch darauf hin, dass sich die Vater-Kind-Beziehung von der Mutter-Kind-Beziehung unterscheide. Der Vater interagiere mehr im Toben, im riskanten Spiel, im Beibringen von Kulturtechniken. Auch hier gelte, dass über sichere Bindungen das Urvertrauen im Kind entstehe, das zu einem Vertrauen in sich selbst, in ein Du und wir, in das Ganze, in die Existenz führe.

Der Referent verwies auf das finnische „Neuvola-System“, ein flächendeckend vorgehaltenes Beratungsangebot durch Familienhebammen für werdende Eltern während der Schwangerschaft und für Familien mit Babys und Kleinkindern mit Hausbesuchen und bis zur Mitte der Grundschule mit Angeboten von Beratungsgesprächen in Praxen. Der Erfolg: sichere Eltern und sehr geringe Zahlen von Kindesmisshandlungen.

Wenn es gelänge, mehr bindungsfähige Menschen zu erziehen, so Professor Trost, könnten die derzeitigen Herausforderungen und Probleme der Menschheit besser angepackt werden.

Pater Ludwig Güthlein spricht zum Thema "Bindungsorganismus und Bündniskultur – innerer Kompass und charismatische Provokation" (Foto: Brehm)

Pater Ludwig Güthlein spricht zum Thema "Bindungsorganismus und Bündniskultur – innerer Kompass und charismatische Provokation" (Foto: Brehm)

Bindung - ein Kernwert der schönstättischen Spiritualität

Den Abschluss der thematischen Arbeit der Delegiertentagung 2022 bildete ein Vortrag von Pater Ludwig Güthlein zum Thema Bindungsorganismus und Bündniskultur, einem „Kernwert der schönstättischen Spiritualität“, wie der Referent betonte. „Unser Grundanliegen ist es, einen Raum zu schaffen, in dem wertschätzende und vielfältige Bindungen möglich sind.“ Schönstatt sei überzeugt, in diesem Bereich von Gott ein besonderes Charisma erhalten zu haben. Ein Charisma betone etwas Zentrales über das Normale hinaus und sei dadurch auch etwas Provozierendes, ein Stachel, und werde fruchtbar in einer konkret gelebten Form. Jedoch sei es notwendig, aufgrund der Tatsache, dass anders als zu Beginn der Geschichte Schönstatts, heute bei den Menschen eine Verankerung in Gott nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden könne, sich mit den möglichen „Antworten“, die sich aus dem Charisma ergeben, neu zu beschäftigen. „Wir sind, was das Religiöse angeht, heute in einer Aufbausituation. Der Grundvorgang Verankerung in Gott muss erst einmal neu zur Entwicklung gebracht werden.“ Es stelle sich die Frage, was heute „Verankerungsvorgänge“ seien, die tragen.

Wenn in Schönstatt die lokale Bindung betont werde, an Orte, an das Heiligtum, die kleine Kapelle mit dem Marienbild – über 200 Mal auf der ganzen Welt, so stelle sich heute z.B. die Frage nach einem sich erneuernden Engagement für die Schönstatt-Zentren, angesichts des Aufwandes, den diese Zentren erfordern. Dem gegenüber stehe der Wert der Erfahrung einer ganzheitlichen Beheimatung in einer mobilen Welt und die gläubige Überzeugung, dass die eigentliche Beheimatung an so einem Ort verbunden ist mit Menschen und ihrer geistlichen Investition für dieses konkrete Zentrum und mit der lokalen Gebundenheit der Gottesmutter als charismatische Quelle eines solchen Ortes.

Im Bereich der Bindung an Ideen, Werte und Ideale gelte es den schmalen Grat zu finden, einerseits Wertvorstellungen und Ideale zu vermitteln und andererseits zu vermeiden, dass durch Vorschreiben von Handlungen Zwang entstehe. „Wie schaffen wir es, ein Gespräch zu führen, wo in einem gemeinsamen Suchen eine Sinnerfahrung und eine Werterfahrung möglich wird?“ Im Bewusstsein, dass es ideale Ziele gäbe, die nicht jeder Mensch erreichen könne, sei es Pater Kentenich immer ein Anliegen gewesen, Wertvorstellungen zu vermitteln, jedoch keine Handlungsweisen vorzuschreiben. Es dürfe in diesem Bereich auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass Menschen aufgrund des Akzeptierens von Vorgaben so oder so bewertet würden. Und natürlich stelle sich die Frage: „Kann man an Ideale gebunden sein, Sicherheit in ihnen und Freude an ihnen haben, obwohl sie nicht ganz zu realisieren sind?“

Personale Bindungen, zum Beispiel im Liebesbündnis an die Gottesmutter Maria, gehörten für Schönstatt zum Wesentlichen. Bei personalen Bindungen an Menschen gehe es natürlich sofort um die Frage: Kann man einem Menschen so vertrauen, dass wirklich Bindung entsteht? Und herausfordernder sei noch die Frage, ob man bei manchen Menschen sogar sagen könne, dass sie mit ihrer Art helfen, geistliche Erfahrungen, Gotteserfahrung, Sinnerfahrung zu fördern und damit Bindung an Gott zu ermöglichen? Der Gründer Schönstatts, Pater Kentenich, habe hier ein besonderes Charisma gehabt. Viele Menschen hätten – oft nach nur einem Besuch – bei ihm das Erlebnis gehabt, dass sich in der Begegnung mit ihm innere Vorgänge, Sinn- und Gotteserfahrung in einer ganzheitlichen Weise aufschließen.

Das Erleben von Wertschätzung und Zutrauen durch einen Menschen, der mehr an einen glaubt, als man selbst, wolle er als „Edison-Erfahrung“ bezeichnen, so Güthlein. Edison, der geniale Erfinder der Glühbirne und vieler anderer Erfindungen habe als Kind einen Brief seines Lehrers an seine Mutter abgeben sollen. Die Mutter habe mit Tränen in den Augen vorgelesen: „Ihr Sohn ist ein Genie, wir können ihn hier in der Schule nicht unterrichten. Unterrichten sie ihn selbst.“ Jahrzehnte später, die Mutter war schon lange tot und Edison ein großer Erfinder, findet er besagten Brief in der Schublade und liest: „Ihr Sohn ist geistig behindert, wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.“ Edison habe geweint und dann in sein Tagebuch geschrieben: „Durch eine heldenhafte Mutter wurde Edison zum größten Genie des Jahrhunderts.“ In der personalen Beziehung zu Pater Kentenich könne man solche „Edison-Erfahrungen“ machen, könnten vielfältige innere Vorgänge geschenkt werden, „in denen meine Welt, meine Lebenswirklichkeit und der Sinn meines Lebens, meine Gotteserfahrung zusammenkommen“, so Güthlein zum Abschluss. Es gehöre zum Bindungsorganismus Schönstatts, dass dieses durchsichtig Werden des Lebens auf Gott hin zum Erlebnis werde, dass menschliche und geistliche Verankerung, die heute nicht mehr vorausgesetzt werden könne, „eine Kultur, eine Form, einen Weg haben, den wir den Menschen anbieten wollen.“

 


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