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5. Oktober 2021 | Frauenkongress | 

Gertraud von Bullion: Alleinstehend – für ein MEHR.


Gertraud von Bullion (Foto: Archiv)

Gertraud von Bullion (Foto: Archiv)

Gertraud von Bullion gilt als Mitbegründerin der Frauenbewegung in Schönstatt vor 100 Jahren. Kann diese Frau, Gräfin, Rot Kreuz Schwester im Weltkrieg, Suchende, Mitgründerin, ... heutigen Menschen, heutigen Frauen etwas sagen? Kann sie, die sie – wie Dr. Alicja Kostka, Mitglied im Schönstatt Frauenbund, aufgrund ihrer Forschungen sagt – bewusst den Stand „alleinstehend“ gewählt hat, der heute nicht gerade begeistert aufgenommen wird, heutigen Frauen Wege aufzeigen, die eigene Berufung zu finden und zu verwirklichen? Kostka ist davon überzeugt, dass es sich lohnt, sich mit Gertraud von Bullion näher zu beschäftigen.

Annäherung an die Mitgründerin der Frauenbewegung Schönstatts,
Gräfin Gertraud von Bullion

Alicia Kostka

Warum hat am Anfang der Frauenbewegung Schönstatts ausgerechnet eine alleinstehende Frau gestanden? Gertraud von Bullion kam in Berührung mit Schönstatt als junge, selbstständige Frau, die nach etwas MEHR in ihrem Leben gesucht hat. Vor 100 Jahren nicht selbstverständlich. Diese Tatsache fällt manchen bei der Annäherung an Gertraud etwas schwer. Ist doch der Wunsch nach Partnerschaft in den meisten Frauen tief verankert. Wie kann eine Annäherung an diese Türöffnerin für Frauen in Schönstatt entstehen, wenn ihr Lebensentwurf eher ungewöhnlich war? Ja, sie wurde zur Pionierin eines neuen Lebensentwurfs: als Laie in der Welt, selbstständig und doch in einer geistlichen Familie verankert, um missionarisch wirksam in ihrem Umfeld zu sein.

Hinter der bloßen Tatsache, dass Gertraud von Bullion sich für den Weg der Nachfolge Christi in der Welt entschieden hat, steht eine tiefere Botschaft. Ich möchte sie ins Gespräch bringen.

Den Selbstwert in sich finden

In der Beobachtung der Frau hat Pater Kentenich festgestellt, dass es in ihr eine gewisse Tendenz gibt, sich eher durch die Zugehörigkeit zum Mann zu definieren und durch Kinder, denen sie Leben schenkt. Somit tun sich nicht wenige Frauen schwer, in sich selbst den eigentlichen Wert, den Selbstwert, zu finden, sich selbst – unabhängig von Konstellationen, in denen sie leben, – zu bejahen. Diese Feststellung hat er vor fast 100 Jahren getroffen. Heute hat sich in dieser Richtung viel geändert. Die Frau befindet sich auf einem intensiven Weg der Selbsterkundung. Solch einen Weg – im Rückbezug auf die christliche Offenbarung – hat Josef Kentenich den Frauen in der Spiritualität Schönstatts eröffnet und dafür einen großen Teil seines Lebens geschenkt. Diese Spiritualität wuchs gleichzeitig mit diesen Frauen und entfaltete sich, von ihnen wesentlich mitgestaltet.

Die Sehnsucht, in Berührung mit sich selbst zu kommen 

Ähnlich stellt Edith Stein bei der Frau phänomenologisch eine tiefe Sehnsucht nach Selbsterkenntnis fest. Und zwar, nicht nur sich allgemein als Frau zu verstehen, sondern in der ganz individuellen Ausprägung, in dem persönlichen So-Sein, das Gott jeder Frau unwiederholbar schenkt. Wie bin ich? Was ist meine Bestimmung? Auch wenn die Erkenntnis von Pater Josef Kentenich nach 100 Jahren eventuell einer Weiterentfaltung bedarf, so ist in vielen Ländern und Kulturen die Lage der Frau immer noch sehr der Fremdbestimmung ausgeliefert. Josef Kentenich hat global gedacht. Ihm war es wichtig, dass die Frau sich selbst bejaht, unabhängig von der Zugehörigkeit zur konkreten Person(en), auch wenn dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit und das Sich-Schenken-Können in ihr eine sehr zentrale Rolle spielt. Eine tiefere Identifikation im Horizont der biblischen Anthropologie, aber auch einer psychologischen Betrachtung (ihrer Stärken und Talente), sollte zu einem Empowerment (in seiner Sprache: „mündig-Werden“ der Frau) führen, und von da aus – durch die Rückbindung an Maria – zur Mitgestaltung der Welt- und Heilsgeschichte. Die Theologie hat er auf praktische Alltagsspiritualität und Persönlichkeitsentfaltung heruntergebrochen.

Gertraud von Bullion: die Geschichte beeinflussen – von innen her

Hierfür ist Gertraud von Bullion ein Beispiel, wie sie aus der tiefen Sehnsucht, der sie treu geblieben ist, den Platz in ihrem Leben gefunden hat, der ihr sowohl die Selbstverwirklichung erlaubte als auch die Mitgestaltung der Kirchen- und Weltgeschichte. Ein Wunsch, in jedem Menschen tief verankert.

Die Sehnsucht nach Weite

Gertraud war eine besondere Frau. Aber war nicht auch ihre Bestimmung besonders? Den üblichen Wunsch nach Ehe und Familie hatte sie in sich nicht so stark verspürt, obwohl sie die Zuwendung eines Mannes und seinen Wunsch nach Heirat erlebt hat. Ebenfalls hat sie sich dem Wunsch ihres Vaters, sie verheiratet sehen zu wollen, widersetzt. Damals nicht selbstverständlich und mit Spannungen verbunden, die auszuhalten waren. Bei all dem war sie und blieb sie sehr fraulich, warmherzig und offen für die Menschen um sie herum. In ihr war die Sehnsucht nach Weite, die sich in ihrer Kindheit in dem Wunsch, Missionarin in fernen Ländern zu sein, erstmals manifestierte. Als der Krieg ausgebrochen war, meldete sich Gertraud freiwillig zum Kriegsdienst als Rotekreuz-Schwester. Eine Freigiebigkeit des jungen Herzens war spürbar da, wie auch bei vielen jungen Frauen ihrer Generation. Nach Rückkehr aus dem Kriegsdienst wusste sie immer noch nicht so recht, was ihr Weg nun sein sollte. Der Wunsch nach Hingabe an Christus und an die Menschen war stark in ihr. Er hat auf eine Konkretisierung gewartet und danach gesucht mitten in den Herausforderungen des Alltags, z. B. der Krankheit des Bruders und des Vaters, der Pflege der Familienmitglieder, der Konfrontation mit der eigenen Krankheit.

Mission im eigenen Land. Als Laie mitverantwortlich, von unten her

Die Beobachtung, dass das eigene Land zunehmend Missionierung braucht, die vielleicht herausfordernder sein könnte als die Mission in fernen Ländern, hat sich da mit der Entdeckung Schönstatts als einer missionarischen (in damaliger Sprache: apostolischen) Bewegung verbunden. In der Annäherung an die und dem Dienst in der jungen Bewegung spürte sie zunehmend die Sehnsucht: „Mir ist nach berufsmäßigem Apostolat“. Sie wollte ihr Alles geben. Und ausgerechnet da, mitten im Krieg, ist ihr die Schönstatt-Bewegung durch die jungen Sodalen begegnet. Da spürte sie die (missionarische) Weite, nach der sie sich immer schon gesehnt hatte! Sie spürte, dass dieses Angebot Schönstatts: die Formung der Persönlichkeit, um als Sauerteig in der Welt zu wirken, auch für Frauen wichtig und notwendig ist, damit sie führend in der Gesellschaft wirken können. Da hat sie Feuer gefangen. Die Weite, von der sie träumte, die sie in sich verspürte, war gefunden!

Schönstatt: Mehr als Bewegung – familienhaft verbunden

Der Anspruch Schönstatts war von Beginn an: Familie zu sein, in der jeder mit Banden der Liebe verbunden ist, füreinander geschwisterlich verantwortlich. Ein hoher Anspruch. Dessen war sich Gertraud bewusst, aber das hat sie in die Gründungsstunde dieser Frauenbewegung hineingegeben. Dafür brauchte es ausgesprochen sie mit ihrem weiten Herzen. Als Gräfin bot sie den neuen Mitgliedern selbstverständlich das schwesterliche „Du“. Mitverantwortlich initiierte sie die Sammel-Aktionen für alles, was notwendig war, damit Schönstatt zu einem „Haus“ für viele werde: die Wäsche für das Übernachtungshaus und die Kelchwäsche für das Heiligtum. Von Anfang an brauchte es da den fraulichen Blick. Schwesterlich sorgte sie dafür, dass junge Frauen, die sich die Fahrt nach Schönstatt nicht leisten konnten, die Kosten beglichen bekamen. Jede und jeder sollte die Möglichkeit haben, nach Schönstatt zu kommen.

Gleichzeitig war sie mitbeteiligt an den Entscheidungen der Verantwortlichen auf Augenhöhe, wenn es um das Konzept der neuen Gemeinschaft ging, um die praktische Ausführung. Ihre Korrespondenzen mit Pater Kentenich als dem Leiter des Apostolischen Bundes und mit Pater Michael Kolb, dem Verantwortlichen für den Frauenbund/Region Nord, geben ein interessantes Zeugnis davon. Wir begegnen ihr als Frau, die eine Leitungskompetenz mitbringt und auch wahrnimmt, was ihr anvertraut wird. Ihre briefliche Verbundenheit mit den Mitschwestern zeugt von ihrer Bemühung, von Anfang an familienhafte Bande grundzulegen, zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Ihr Anspruch: „Seht, wie sie einander lieben“ sollte das Miteinander bestimmen. Dafür stand sie mit ihrem persönlichen Bemühen und auch mit erlebten Grenzen, lebenslang. Ihre unzähligen Briefe sind bis heute eine reiche Quelle von Inspirationen und geben kommenden Generationen Orientierung.

Alleinstehend und doch Mutter geworden…

Alleinstehend zu Schönstatt gekommen, war sie offen und bereit für das, wohin sie Gott stellen würde. Das „Fiat“ der Mutter aller Völker wurde für sie maßgebend im persönlich gewählten und gefärbten „Serviam“: ich möchte dienen. Auf der Suche nach etwas Großem und Erfüllendem in ihrem Leben wurde sie „Mutter“ dieser jungen Frauenbewegung des Apostolischen Bundes, und hat dazu beigetragen, dass die Bewegung nach und nach eine universelle wurde, die Schranke eines Männervereins überschreitend. An dieser Schnittstelle brauchte es sie.

Sie verzichtete auf eine eigene Familie, um vielen Frauen eine Familie zu ermöglichen. Dafür brauchte es ihr „Alleinsein“, damit in den Grund ihres Herzens der Samen eines großen Baumes fallen und darin Wurzeln schlagen konnte. Eine einmalige Bestimmung. Eine große, internationale Familie entsteht. Dafür hat sie sich eingesetzt, ja wörtlich hingegeben, wie es eine Mutter nur tun kann.

Weil groß, deswegen in den Hintergrund treten können

Gerade am Anfang, um den Raum für das Wachsen vieler zu ermöglichen, brauchte es diese Größe, sich nicht in die erste Reihe zu stellen, den Raum für sich zu nehmen. Gertraud hatte dafür alle Karten: adelige Abstammung, ausgezeichnete Ausbildung und menschliche Qualifikationen. Ihre innere Haltung zeigt aber am deutlichsten die symbolische Handlung, die sie vorgenommen hat, als der Grundstein für den Bau des Bundesheimes als Haus für diese neue Bewegung gelegt worden war. Sie schlägt ihren Mitschwestern bei der Grundsteinlegung vor, sie mögen mit ihr ihre Hände auf den Grundstein legen und sagte: Möge sich das Gebäude des Apostolischen Bundes auf uns aufbauen, wie dieses Gebäude sich auf diesem Grundstein aufbaut. Auch hier eine Mutter, die sich zurückziehen kann, um das Leben, um Wachstum zu ermöglichen. Sie wollte ein Stein sein tief im Fundament, unsichtbar für das menschliche Auge.

Alicja Kostka (Foto: privat)

Die Autorin, Dr. Alicja Kostka, stammt aus Polen und ist Mitglied im Schönstatt Frauenbund (Foto: privat)

Mutter auf dem inneren Weg zu Gott

Durch ihr plötzliches und viel zu schnelles Krankwerden – sie hat sich in ihrem freiwilligen Dienst mit TBC infiziert – führte sie Gott auf den Weg des inneren Wachstums. Sie war gerade 30 Jahre alt, als ihr Leidensweg begann. Durch vorbildhaftes Aushalten des Kreuzes half sie vom Beginn der wachsenden Gemeinschaft an, sie in die Tiefen der bereinigenden und vereinigenden Gottesliebe zu führen. Ihre Briefe, die diesen inneren, zu Gott emporsteigenden Weg beschreiben, geben Zeugnis bis heute und inspirieren nachfolgende Generationen, wie man den Weg der Gottesvereinigung in der Welt gehen kann.

Gertraud blieb treu ihrer Entscheidung, für diese werdende Familie ihr „Alles“ zu geben. Eine geistige Mutterschaft, zu der sie Gott eingeladen, berufen hat.

Alleinstehend und doch Mutter – Meisterin des inneren Lebens – mitten in der Welt. Gertraud verbindet verschiedene Lebensstände und -konzepte: Alleinstehende und Mütter, aktiv mitgestaltende und solche, die Krankheit ans Bett gefesselt hat, Menschen, die Gott mitten im Alltag suchen und solche, die ihn in der Gottesferne nicht finden, nicht spüren können. Eine Frau mit vielen Facetten. Von Gott berufen – Gott antwortend – lebte sie mit aller Freigiebigkeit, zu der sie fähig war in der Haltung: „Dem Leben mit Liebe zu dienen, ist meine schönste Bestimmung!“

 

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