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Ignazio Sanna - Der Christ als Fremder
Kommentar der Woche: Der Christ als Fremder
Erzbischof Dr. Ignazio Sanna, Rom (Foto: basis-online.net)
09.09.2020
Ignazio Sanna
Der Christ als Fremder
Immer mehr Menschen in unserem Land fragen sich: Wie viele Fremde aus einer ganz anderen Kultur, mit einer anderen Religion und Ethnie kann und darf ein pluralistisches Land integrieren? Man muss die Probleme ernst nehmen, die aus dem Zusammenleben von Deutschen, Italienern, Europäern und Nicht-EU-Angehörigen entstehen. Dabei wird es darauf ankommen, die mutmaßlichen Guten und die mutmaßlichen Schlechten nicht gegeneinander auszuspielen. Jeder verantwortliche Bürger ist gefordert, das Misstrauen gegen „andere“ Kulturen zu überwinden.
Wie können Christinnen und Christen die Herausforderungen der multiethnischen Gesellschaft und des religiösen Pluralismus angehen?
Eine starke Motivierung dürfte sicher aus dem Glauben an einen trinitarischen Gott kommen. Dieser Glaube an den dreifaltigen Gott hat Folgen für die christliche Existenz grundsätzlich und das Zusammenleben der Menschen. Eine sehr deutliche Folge ist die Förderung von Gemeinsamkeit und Solidarität unter allen Menschen. Als wahres Ebenbild des dreieinigen Gottes, eines „Gottes in Gemeinschaft“, ist der Christ (wie jeder Mensch) ein sozialer, für Gemeinschaft offener Mensch. Zusätzlich aber reißt Jesus Christus einen geistlichen Horizont auf, der die menschliche Vernunft übersteigt, ja für diese unerreichbar ist: Er möchte, wie er zum Vater betet, „dass alle eins seien … wie auch wir eins sind“ (Joh 17, 20-22). Diesen Gedanken greift der Text des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes auf und sagt: Dieses Verständnis „legt eine gewisse Ähnlichkeit nahe zwischen der Einheit der göttlichen Personen und der Einheit der Kinder Gottes in der Wahrheit und der Liebe. Dieser Vergleich macht offenbar, das der Mensch, der auf Erden die einzige von Gott um seiner selbst willen gewollte Kreatur ist, sich selbst nur durch aufrichtige Hingabe seiner selbst vollkommen finden kann.“ (Gaudium et Spes, Nr. 24)
Alle Menschen sind irgendwann mit ihrer Geburt auf diesem Planeten „eingewandert“. Und wer aus einem für uns fremden Land kommt, ist letztlich nicht weiter entfernt als derjenige, der hier in diesem Land aus dem Mutterschoss kommt. Das Haus, in dem wir alle leben, d. h. der Planet Erde, müsste symbolisch das Haus der Trinität nachbilden, in dem das Anderssein das Fundament der Liebe und der Gegenseitigkeit ist.
Eines der bedeutungsvollsten Bilder von Jesus, das uns durch die Evangelien überliefert wird, heißt “Mensch-für-Andere”. Jesus ist auf die Welt als lebendiger Zeuge der göttlichen Philanthropie gekommen, als Zeuge für Gott, der den Menschen liebt (Weish 1,6) und der nichts missachtet, was er erschaffen hat, weil er auch das Leben liebt (Weish 11, 24-26). Wenn der Glaubende als Ebenbild des dreieinigen Gottes handelt – im gleichen Maß, wie er Ebenbild Christi ist – wird er selbstverständlich akzeptieren, für die Anderen und mit den Anderen zu leben und dazu beitragen, Aufspaltung und Kampf gegeneinander zu vermeiden.
Erzbischof Dr. Ignazio Sanna, Rom
Präsident der Päpstlichen Akademie für Theologie