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18. Juli 2018 | Worte des Bewegungsleiters | 

Deutung der Zeitströmungen lernen


Jahresmotiv 2018 der Schönstatt-Bewegung in Deutschland (Grafik: POS Brehm)

Jahresmotiv 2018 der Schönstatt-Bewegung in Deutschland (Grafik: POS Brehm)

Liebe Mitglieder und Freunde unserer Schönstatt–Bewegung,

Ein Schreibtisch am 14. September 1968

Als vor 50 Jahren Pater Josef Kentenich am Morgen des 15. September nach der Feier der heiligen Messe in der Anbetungskirche auf Berg Schönstatt nach dem Ablegen der priesterlichen Gewänder zusammensank und verstarb, sah der Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer so aus wie jeden Tag: Bücher, Notizen, Briefe, Zeitungen, Terminkalender. Die Regale um ihn herum waren eine Bibliothek aus Nachschlagewerken und aktuellen Büchern und Zeitschriften. Mit einem Handgriff konnte er die neueste Ausgabe der theologischen Zeitschrift „Stimmen der Zeit“ vom September 1968 erreichen. Damals war die topaktuell.



Wenn man heute dieses Arbeitszimmer besucht, kann man ziemlich genau die Situation vom September vor 50 Jahren sehen. In Plastik eingehüllt und unter Plexiglas ist es etwa so wie damals.

Juli 2018
Deutung der Zeitströmungen lernen
Aus einem Brief von Pater Josef Kentenich an Pater Alex Menningen zum Marianischen Jahr 1954 – wie geschrieben an uns und hineingesprochen in das Kentenich-Jahr 2018, unser Gründergeist-Jahr:
Lieber Alex! 
Liebe deutsche Schönstatt-Bewegung!
„Ohne gegenseitige Schulung wird es uns schwer möglich sein, eine Anzahl gewiegter, selbständig denkender und richtig greifender Führerpersönlichkeiten großzuziehen und in die Schlacht hineinzuwerfen ...
Man sage nicht, das ist eine Kunst, die man nicht lernen kann. Ich möchte demgegenüber behaupten: Führt man selber ein Innenleben, wendet man unsere Betrachtungsmethode getreulich an, hält man ehrfürchtig Fühlung zu den Seelenstimmen in den Menschen, die man begleiten darf, bemüht man sich um eine philosophische Zusammenschau letzter Wahrheiten und Wirklichkeiten und um standhafte Beheimatung darin, ringt man gleichzeitig um inneres Gelöstsein von sich und Geöffnetsein für fremde Art und Unart, für fremde Not und fremdes Ringen, so bekommt man früher oder später eine Gewandtheit, wie das auf allen psychologischen Gebieten zu konstatieren ist, wo sich das Gesetz verwirklicht: habitus fit per repetitionem actuum – (Eine Gewohnheit entsteht durch wertgesättigte Wiederholung von Handlungen). Kommt eine tiefe Liebe zum Gegenüber hinzu, so ist die rätselhafte Kunst schnell gelernt.
Als drittes Mittel nenne ich das Studium der Bücher, die in ihrer Art sich die Aufgabe gestellt haben, die Zeit verständlich zu machen.“ Pater Kentenich schreibt (Foto: Archiv)

Pater Kentenich schreibt (Foto: Archiv)

Viele besuchen diesen Ort und suchen in der Betrachtung die Nähe zu Pater Kentenich. Wie viele Kontakte zu Gemeinschaften und einzelnen Menschen sind an diesem Ort zusammengeflossen. Wie viele Briefe haben von hier aus eine Antwort bekommen. Wie viele Predigt- und Vortragsnotizen sind hier entstanden und wurden zu Lebensimpulsen.

Man kann dabei auch die Frage stellen, wie das mit der Aktualität dieser Bibliothek weitergegangen ist. Wer hat die nächste Ausgabe der „Stimmen der Zeit“ gelesen und mitgeholfen, dass die Botschaft Schönstatts weiterhin die aktuelle Nähe zum Leben und zu den Zeichen der Zeit behält?

Eine Kunst, die man lernen soll und kann

Für Pater Kentenich ist der Umgang mit den Zeichen der Zeit ganz entscheidend für die Fruchtbarkeit Schönstatts und für die Fruchtbarkeit des Evangeliums überhaupt. Er wünscht sich selbständig denkende und richtig greifende Führungspersönlichkeiten. Und in der Pluralität von Meinungen, Interessen und Veränderungen ist eine Schlacht im Gange, in die man sich hineinwerfen muss, formuliert er sogar (s. o. den Briefausschnitt an Pater Menningen).

Wer in Entwicklungen richtig greifen will, muss den Geist der Zeit unterscheiden lernen vom Zeitgeist. Gegen das Negative, das Wider-Menschliche und Wider-Göttliche in der Zeit – und das meint Pater Kentenich mit Zeitgeist – braucht es Widerstand. Man muss es erkennen, verstehen und überwinden. Das gelingt aber nur, wenn man gleichzeitig in der Zeit auch den Geist der Zeit, die Stimme Gottes und die Führungen des Heiligen Geistes erkennt, versteht und mit Kraft und Entschiedenheit umsetzt. Ein erster Schritt dazu ist sicher, dass man sich beider Dimensionen bewusst ist und bewusst bleibt. Weder hilft es, wenn man überall nur den sprichwörtlichen Untergang des Abendlandes, den Untergang des Glaubens und der Sitten sieht, noch kann man der Zukunft und dem Leben dienen, wenn man andererseits ohne Gestaltungswille und Gestaltungskraft das Schädliche ignoriert und laufen lässt und keine Vision hat von dem, was aus all den Veränderungen heraus entstehen soll und kann. So kann man keinen Idealismus wecken und die Kräfte auf eine gute Entwicklung von Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt lenken.

Spannend ist es, wie viele Aspekte für Pater Kentenich in dieser Unterscheidungskunst im Umgang mit dem Leben zusammenkommen. Der obige Abschnitt aus dem Brief an Pater Menningen hat es in sich: Ein Innenleben, das geübt ist, betrachtend und mit Resonanz, die Ereignisse des Lebens wahrzunehmen. Die Fähigkeit, Kontakt und Fühlung zu halten zu dem, was Menschen vor allem innerlich bewegt. Ehrfürchtig offen und selbstlos aufnahmefähig zu sein besonders für das, was an Not und Ringen im anderen vor sich geht. Klarheit im Umgang mit Prinzipien, und Wahrheiten reflektieren und festhalten können. Studium und informiert sein über das, was hilft, Entwicklungen und neue Fragestellungen besser zu verstehen. Die Aufzählung der Gesichtspunkte endet mit dem Satz: „Kommt eine tiefe Liebe zum Gegenüber hinzu, so ist die rätselhafte Kunst schnell gelernt.“

„Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.“ (Apg 2,3)

Bei der Delegiertentagung im März hat uns ein Bild aus der Heiligen Schrift besonders bewegt. Die Apos-tel hatten nach der Erfahrung der Auferstehung gar keinen Plan, wie es weitergehen soll. Sie wurden zusammengehalten von der Aufforderung Jesu: „Geht nicht weg von Jerusalem, sondern wartet auf die Verheißung des Vaters, … ihr werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft.“ (Apg 1,4 f.)
Das, was sie für ihren Weg in die Zukunft brauchten, konnten sie nicht allein durch gemeinsames Diskutieren und Beraten erlangen. Der Beistand, der Heilige Geist, die Kraft aus der Höhe, war die entscheidende Bedingung. Im Gebet um den Heiligen Geist wuchs ihr Miteinander. Und dann, am Pfingsttag, wird es für alle gemeinsam und doch ganz persönlich für jeden Einzelnen zur Erfahrung: Auf jedem lässt sich der Geist nieder. Jeder hat seine Gabe, sein Charisma und seinen Beitrag für das Ganze: „Zungen wie von Feuer; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder.“ Bei aller Übung und Bemühung um die Kunst, Gottes Führungen richtig zu greifen, braucht es diese Geist-Erfahrung. Ohne die Gaben des Geistes für jeden wird es nicht gehen. Ohne die Freude am eigenen und am anderen Charisma wird es nicht fruchtbar. Ohne den Blick auf die gemeinsame Kraftquelle „aus der Höhe“ wird es nie genug gemeinsame Griffsicherheit geben.

Es sind besondere Momente, wenn man Menschen mit besonderen Begabungen und Fähigkeiten kennenlernen darf. Solche Momente beeindrucken und bringen uns zum Staunen. Wenn in einer Gruppe oder Gemeinschaft, in einem Pfarrgemeinderat oder einem Vorbereitungsteam ein Staunen wach wird über all die verschiedenen und gemeinsamen Gaben, dann ist pfingstliche Gemeinschaft geworden.

Für die Sommer- und Urlaubszeit wünsche ich Ihnen viel Freude und viele solche Miteinander-Begegnungen.
Dazu viel Segen vom Urheiligtum in Schönstatt

Ihr

P. Ludwig Güthlein
Schönstatt-Bewegung Deutschland


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